Das rote Tuch margie sidow (PDF)




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Title: Microsoft Word - Das rote Tuch - margie_sidow
Author: Sigida

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Margie Sidow

Das rote Tuch
[socialismo 2.1]

Roman
1

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251665408

In Gedenken an den Comandante
Hugo Rafael Chávez Frias
28.Juli.1954 – 5.März 2013

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50
86
104
113
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Joseph und Maria
Entscheidungen
Die große Methode
„Hartz-Vier-muss-weg“
Verständnisprobleme
Ein guter Marxist
Zwanzig Jahre Globalisierung –

Fühlen, Denken, Handeln

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194
202
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239
244
265
292
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315
324
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335
357
364
385

Das Fest der Solidarität

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Gedanken zu einem Prozess
Betriebsfeier
Venezuela
In Gedenken an Rosa und Karl
Der Mannschaftsführer von Venezuela
Erkämpftes verteidigen und kämpfen für Neues
Der Einzelne und die Gruppe
No Pasaran
Leidenschaft
Das größte Verbrechen
Tag der Arbeit
Wieder
Tag der Arbeit II
Klassenbewusstsein
Negation

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Joseph und Maria
Joseph Mertens war kein Demokrat. Er entschied, nicht nur was
seine Frau am nächsten Tag kochen sollte, auch wohin man in den
Urlaub fuhr, wann das Auto in die Waschanlage musste und meistens
darüber, welches TV-Programm gesehen wurde. Schließlich gehört
ihm das Haus und er verdient das Geld. So war es in Ordnung. Am
Arbeitsplatz entscheiden andere. Er arbeitet in einem
mittelständischen Betrieb, der Webmaschinen für Gitternetze
herstellt. Diese Maschinen werden weltweit vertrieben. Es sind
Spezialmaschinen, die das Unternehmen mit viel Handarbeit
produziert. Da wird gedreht, gefräst, geschraubt, geschweißt, es
werden Kabel montiert, elektronische Steuerungen und Schalter
eingebaut und alle Komponenten zusammengesetzt. Joseph ist
Mechatroniker, ein Beruf, den es erst seit Ende des ausgehenden
vorigen Jahrhunderts gibt; davor hieß das, was er jetzt macht,
Elektromechaniker, hatte aber noch nichts mit Informatik zu tun.
Joseph wohnte in der Nähe seines Arbeitsplatzes am Rande der Stadt
in einer Siedlung mit großen Grundstücken. Das Haus, oder richtig
den oberen Teil, hat er quasi geerbt. Sein Großvater starb vor drei
Jahren. Die Siedlung entstand in den 1920er Jahren. Die
Grundstücke konnten damals für wenig Geld erworben werden. Die
Eigentümer bauten kleine Häuser, es wuchs eine Siedlung für kleine
Leute. Von ihnen wurden Obstbäume angepflanzt, Gemüse und
Salat. Es war sogar möglich, ein oder zwei Schweine zu halten,
Kaninchen und einige Hühner. Nach dem Krieg half die
Selbstversorgung über das Gröbste hinweg. Der Urgroßvater hatte
den Krieg nicht überlebt, der Großvater erzählte nie von damals.
Nach der Kapitulation wurden die Ärmel hochgekrempelt. Das
Zerstörte wurde beseitigt und Neues aufgebaut. Der Großvater hatte

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als Fahrer bei dem Bauunternehmer Großschmidt gearbeitet. Dabei
fiel so mancher Sack Nägel und Holz vom LKW. Man half sich in
der Siedlung und spielte Fußball. Und man kam ins heiratsfähige
Alter. Bei einigen Hochzeiten wurde der Brautstrauß vor den Bauch
gehalten.
Josephs Mutter Gisela war ein Kind der Wirtschaftswunderzeit. Ihre
Kindheit erlebte sie ohne große Höhepunkte und ohne extreme
Krisen. Nach dem Abschluss der Hauptschule machte sie eine Lehre
als Verkäuferin. Nach ihrer Ausbildung hatte sie keine Lust mehr
grundlos freundlich zu gucken, die Kundschaft im Kaufhaus tauschte
sie gegen die in der Kneipe. Ihr Job als Kellnerin brachte mehr ins
Portemonnaie, vor allem, wenn sie lächelte. Sie lernte Josephs
Erzeuger bei der Arbeit kennen. Der trat so selbstbewusst auf und
war sehr nett. Er hatte sie nicht gleich am ersten Abend bedrängt und
er konnte gut tanzen. Sogar kochen konnte der Mann. Richtig
verliebt war sie gewesen. Eine Reise hatten sie gemacht, sie waren
für eine Woche nach El Arenal geflogen. Er war großzügig. Seine
handwerklichen Fähigkeiten konnten sich sehen lassen. Als
Subunternehmer für eine Baufirma erledigte er Kleinaufträge,
Pflastern, Zäune aufstellen und so was. Er kaufte ihr schöne Kleider
und er besaß einen Mercedes 300. Nach sechs Monaten war sie
schwanger, sie hatte einmal die Pille vergessen und da war es
passiert. Als ihr Traummann davon erfuhr, ließ er sie sitzen. Das war
1978. Im Grunde war es ein Glück, dass er ihr den Laufpass gab,
denn Sie hatte sich in einen glücklosen Kleinunternehmer verliebt,
der zwar viel versprach, aber leider Umsatz mit Gewinn
verwechselte und er spielte Karten mit hohen Einsätzen, außerdem
wurde er von seinem Auftraggeber ziemlich ausgenommen. Die
Maschinen, die der ihm als Subunternehmer zur Verfügung stellte,
musste er selbstverständlich bezahlen und so blieb unterm Strich

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nicht viel übrig von den vielen Tausendern, die der Auftrag bringen
sollte.
Das schnelle Ende der Beziehung warf Probleme auf. Gisela und ihre
Eltern bewohnten den oberen Teil des kleinen Hauses, der untere
Teil gehörte der jüngeren Schwester des Großvaters. Die Wohnung
war klein. Sie bot nicht genügend Platz für die Tochter und ihr Kind.
Es musste eine Lösung gefunden werden, die für alle tragbar war.
Die Eltern hätten Gisela keine eigene Wohnung finanzieren können.
Da sie beide arbeiteten, konnten sie sich auch nicht von morgens bis
abends um den Enkel kümmern. Giselas Verdienst in der Kneipe
hätte für eine bezahlte Aufsicht nicht gereicht. Der letzte Ausweg
wäre das Sozialamt gewesen, aber damit wollte keiner etwas zu tun
haben. Nach einigem Nachdenken kam man auf eine gute Lösung.
Das Kind sollte bei den Großeltern wohnen. Gisela wollte weiterhin
Geld verdienen, sie mietete ein kleines Zimmer in der Nähe des
Lokals, in dem sie jobbte. So war es ihr möglich, bis spät in die
Nacht zu arbeiten, hatte keinen langen Heimweg mit dem Fahrrad in
der Nacht zu bewältigen, konnte sich ausschlafen und sich
anschließend tagsüber in der elterlichen Wohnung am Stadtrand um
ihr Kind kümmern. Giselas Mutter arbeitete weiterhin nachmittags in
der Wäscherei.
Als Joseph zwei Jahre alt war, verliebte sich seine Mutter unsterblich
in Michael. Sie lernte ihn im Krankenhaus kennen. Er war dort
Pfleger in der Kinderstation. Joseph war von einem Stuhl auf den
Tisch geklettert und versuchte einen kleinen Engel zu greifen, den
seine Mutter an der Lampe befestigt hatte, dabei verlor er das
Gleichgewicht und stürzte vom Tisch auf den harten
Küchenfußboden. Die Platzwunde am Kopf musste genäht werden.
Wegen der Gehirnerschütterung blieb Joseph drei Tage zur
Beobachtung in der Klinik. Michael verliebte sich in den regen
kleinen Kerl und in seine Mutter. Alle drei waren glücklich. Da Opa

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und Oma ihren Enkel vergötterten, hatte das junge Paar, als die
Schmetterlinge im Bauch flatterten, genügend Zeit für sich und
genossen es. Michael hatte eine Honda CB 750 Four, damit fuhren
sie zu dem Konzert von Peter Maffay. „Ich will leben“ wurde ihr
Lied. Sie hatten Spaß beim Tanzen und an Touren mit der schweren
Maschine. Die kleine Familie bezog eine Dreizimmerwohnung am
Stadtrand. Kurz danach heirateten Gisela und Michael. Gisela gab
ihren Job als Kellnerin auf und saß fortan vormittags beim
Supermarkt an der Kasse. Der lag in der Nähe des Kindergartens.
Am Nachmittag kümmerte sie sich um den Haushalt und bereitete
das Abendessen, wenn Michael Frühdienst hatte. In den Wochen des
Spätdienstes besuchte sie oft ihre Eltern. Joseph gefiel es mit Opa in
der Werkstatt zu basteln. Opa war Hausmeister an der KurtSchumacher-Realschule. Er konnte sich seine Arbeitszeit gut
einteilen, so dass er nachmittags meistens Zeit für seinen Enkel hatte,
und die nahm er sich gern. Opa konnte mit dem Schweißgerät und
allem, was aus Eisen oder anderen Metallen war, virtuos umgehen.
Während Gisela und ihre Mutter beim Kaffee über die Menschen aus
der Siedlung plauderten, über Hochzeiten, Scheidungen, Geburten
oder wer mit wem fremdgegangen ist, wer einen neuen Wagen fährt
oder wie Geburtstage oder Beerdigungen verlaufen sind, durfte der
kleine Joseph mit dem kleinen Hammer auf einem Stück Eisen
herumhauen oder so tun, als würde er Schrauben am alten Käfer
lösen, der zur Restauration in der Werkstatt stand. Manchmal
machten Opa und Joseph Ausflüge zum nahegelegenen Bahnhof, um
staunende Blicke auf die großen, lauten Lokomotiven und ihre vielen
Anhänger zu werfen. Auch Bagger und Lastwagen hatten es Joseph
angetan.
Seine Schwester wurde 1985 geboren, kurz nach seiner Einschulung.
Die Honda wurde verkauft. Der Opel mit seiner großen Heckklappe
war familientauglicher. Am Wochenende ging es bei schönem

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Wetter mit dem kleinen Kinderrad und dem großen Kinderwagen ins
Grüne und auch mal in den Zoo, bei schlechtem Wetter ins städtische
Hallenbad und ab und zu ins Naturkundemuseum. Abends kam von
Zeit zu Zeit auch die Lust zu ihrem Recht, wenn die Kleinen
schliefen.
Jasmin lernte laufen, sprechen und ihre Baby-Puppen lieben. Joseph
bekam von Opa beigebracht, wie ein Schlauch geflickt wird, und
Michael erfreute sich daran, dass sein Sprössling keine Angst vor
dem Ball hatte und sich reaktionsschnell in den Matsch schmiss. Am
Samstagabend saßen Michael und Joseph vor dem Fernsehgerät und
sahen sich die Zusammenfassungen der wichtigsten Bundesligaspiele
an, während Gisela ihrem Töchterchen ihre Lieblingsgeschichten
vorlas. Selbstverständlich teilten Michael und Gisela Happy Ends
wie das von Johnny und Baby in Dirty-Dancing oder lachten Tränen
bei dem Versuch des Lieutenants Frank Drebin das Attentat auf
Elisabeth II. zu verhindern. Michael und Josephs Großvater
verstanden sich gut und verbrachten gemeinsam so manche Stunde
beim Restaurieren des Käfers und des einen oder anderen Motorrads.
Um das Glück zu vervollständigen, das Kochen angenehmer und für
den Spaß am Nähen genügend Platz zu haben, richtete sich die
Familie eine geräumige Fünfzimmerwohnung mit großer
Einbauküche etwas näher am Krankenhaus gelegen ein. Der Weg zur
Arbeit konnte jetzt mit dem Fahrrad bewältigt werden. Der
Kindergarten für Jasmin lag nicht weit entfernt und auf der
Realschule, die Joseph seit August 1989 besuchte, traf er einige
seiner Kameraden wieder, die er aus der Grundschule kannte. Gisela
suchte sich erneut eine Tätigkeit an einer Supermarktkasse, sie war
nach Jasmins Geburt zu Hause geblieben, wollte aber jetzt mit ihrer
Arbeit das Haushaltseinkommen und ihr Rentenkonto ein wenig
aufbessern.

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Joseph ging gern zur Schule, nur mit Englisch hatte er Probleme,
Sport und Mathe waren seine Lieblingsfächer. Aber das neue Fach
Politik fand er eher langweilig. Der Lehrer erzählte viel. Das Meiste
verstand er nicht. Der ältere Herr, der das Fach unterrichtete, trug
immer eine Krawatte und hatte unangenehmen Mundgeruch. Am
Montag, dem 11. November verhielt sich der Politiklehrer ganz
anders als in den Wochen zuvor. Er machte nicht da weiter, wo sie in
der vorigen Woche aufgehört hatten, sondern erzählte etwas von
einem Wunder. Er sprach von einem anderen Deutschland neben
unserem Deutschland und dass die Menschen dort bisher nicht aus
ihrem Land heraus konnten, und erklärte, dass das jetzt vorbei ist.
Einer der Mitschüler sagte, dass er das im Fernsehen gesehen hätte
und sein Vater meinte, dass das das Ende vom Kommunismus sei.
Einer fragte, was denn Kommunismus ist. Der Lehrer stellte in seiner
Antwort dar, dass die Menschen im Kommunismus nicht frei seien
wie die Menschen in Deutschland. Sie dürften nicht sagen, was sie
wollen und nicht hinreisen, wohin sie wollen. Er erwähnte die
Sozialistische Einheitspartei und führte aus, dass es in der DDR eine
Gruppe von Menschen gibt, die alles bestimmt, die Honecker-Clique.
In der DDR gäbe es eine Diktatur fast so wie in Deutschland vor
über vierzig Jahren, als die Nazis an der Macht waren. Auch sei die
DDR kein Rechtsstaat, es gäbe in der DDR nicht die Möglichkeit
beim Gericht sein Recht einzuklagen, so wie bei uns. Der Lehrer
beendete seine Ausführungen mit den Sätzen: „Und es gibt dort
keine Demokratie. Die Demokratie ist jedoch ganz wichtig. Damit
wir das besser verstehen, werden wir uns in den nächsten Stunden
mit Demokratie beschäftigen.“
Joseph verstand gar nichts.
Bisher war er noch nie weiter als bis zur Tante Berta gereist. Die
wohnt in Frankfurt. Das war eine Autofahrt von drei Stunden. Er
hatte sich noch nie die Frage gestellt, was man beim Reisen beachten

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muss. Im Kindergarten hatten sie Geschichten gehört von Eskimos,
die am Nordpol leben. Er wusste, dass es ganz viele Länder gibt und
dass überall Menschen wohnen. In einigen Ländern ist es so heiß,
dass dort nur wenig wächst, manche haben Wüsten. In Afrika und in
Indien besitzen viele Menschen sehr wenig Geld, die können sich
nicht viel kaufen, manchmal werden die nicht richtig satt oder
verhungern. Er wusste, dass man da nur mit dem Flugzeug oder mit
dem Schiff hinkommt, aber die Wörter, die der Lehrer genannt hatte,
kannte er nicht und wusste auch nicht, was das sein soll. Er verstand
nur, dass das Wort Diktatur wohl etwas ganz Schlimmes bedeutet,
weil er das Wort Nazis schon mal gehört hatte und das bedeutet
ebenfalls etwas ganz Schlimmes. Aber Demokratie? Wenn er den
Lehrer richtig verstanden hatte, dann - , aber irgendwie ergab das
keinen Sinn.
Nach der Politikstunde stand Englisch auf dem Stundenplan. Der
Montag war der schrecklichste Tag der Woche. „We are happy because our brothers and sisters are free now.” Der Englischlehrer
musste sich mit dem Politiklehrer abgestimmt haben. Joseph Mertens
beschloss in dem Augenblick, dass das Wort Demokratie für ihn ein
rotes Tuch ist. Alternativ konnte es auch das Signal sein, sich mit
anderen Dingen zu beschäftigen. In den nächsten Wochen ging es in
Politik um Wahlen, Politiker und Parteien, er lernte, dass diese
Politiker darüber entscheiden, ob eine neue Schule oder eine
Autobahn gebaut wird. Er hörte, dass es eine Partei gibt, die eher von
Arbeitern gewählt wird und eine andere, für die sich mehrheitlich
Bauern, Christen und Gutverdienende entscheiden. Dann wurde noch
eine Partei erwähnt, die weniger Stimmen erhält, das sind die
Grünen, die wollen Umweltschutz. Eine andere kleine Partei, die sich
freiheitlich nennt, regiert mit der christlichen Partei immer
zusammen in Deutschland. Die Menschen können alle vier Jahre
wählen, wer darüber entscheiden soll, ob Autobahnen gebaut werden

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oder den Autofahrern beim Tanken ganz viel Geld abgenommen
wird. Es wurde noch darüber gesprochen, dass die komischen
kleinen Autos, die jetzt häufiger zu sehen waren und die aus
Kunststoff sind, aus der DDR kommen. Der Politiklehrer brachte den
Schülern bei, dass die Menschen aus der DDR hierher kommen und
ganz viel einkaufen, vor allem Bananen, weil in der DDR das
Angebot so gering ist. Dann wurde davon gesprochen, dass die
Menschen in der DDR sich immer montags auf den Hauptstraßen in
den großen Städten versammeln und rufen „Wir-sind-das-Volk“.
Zuhause hatte Joseph erst seinen Vater sagen hören, dass die Ossis
unser Geld geschenkt bekommen, danach, als in der DDR freie
Wahlen stattgefunden hatten und die Menschen dann riefen „ , dass
Deutschland und die DDR jetzt zu einem Land werden sollen und die
Wiedervereinigung ein Vermögen kosten wird.
Das Zeugnis nach einem Jahr Realschule hatte einen Schnitt von fast
zwei und das trotz der Fünf in Politik. Die Einser in Mathe und Sport
glichen die Englischvier und die Zensur im ungeliebten
Demokratieunterricht
weitgehend
aus.
Wichtiger
als
Leistungsbewertung war jedoch die Fußballweltmeisterschaft. Als
das 1:0 gegen Argentinien fiel, freuten sich Michael und Joseph.
Deutschland wurde Weltmeister und Bodo Ilgner sein Idol.
Die Zeit der biologischen Reife verlief normal mit den üblichen
Erfahrungen. Joseph ließ sich nach einigen Zügen von der Zigarette,
die heftige Hustenanfälle provozierten, vom Trainer vorübergehend
überzeugen, dass es für einen Sportler nicht gut ist zu rauchen. Auch
der übermäßige Genuss von Bier oder Wein hielt sich in Grenzen.
Das Knallen von Türen und Campinos Gesang erreichten
phasenweise Lärmpegel, die nur von Michaels Erziehungsversuchen
getoppt wurden. Die Noten erreichten einen Schnitt von fast drei und
Knutschen und Grabbeln gehörten in der neunten Klasse neben dem
Tore halten zur gern praktizierten Freizeitgestaltung. Auch der Vier-

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Sechs-und-achtziger DX-PC verlangte viel Aufmerksamkeit. Der
Ausflug auf der hundert-fünf-und-zwanziger Yamaha, die Michael
wieder fahrbereit gemacht hatte, endete zum Glück nur mit einigen
Prellungen. Es gab eine heftige Standpauke und Taschengeldentzug
für vier Wochen. Um die Wogen zu glätten, half Joseph begeistert
beim Restaurieren. Man hatte Spaß mit Filmen, in denen viel Blut
floss. Dabei konnte man zeigten, dass man echt cool ist. Eine Freude
war es zu erleben, wenn jemand rausrannte und sich dann übergeben
musste. Es kam der Tag, da gab’s dann auch das erste Mal, Stefanies
Eltern waren nicht zu Hause, es war unheimlich aufregend, aber viel
zu schnell vorbei.
1995 wusste Joseph noch nicht, was er werden will. Die Eltern rieten
ihm zum Besuch der FOS Technik. Er nahm den Rat an und bekam
in den zwei Jahren eine gute informationstechnische
Grundausbildung. Danach musste er erst mal seinen Zivildienst
machen. Während der Zeit im Altenheim wurde klar, dass ihm der
Umgang mit Kabeln und Schraubendrehern eher liegt als die Pflege
Bedürftiger. Aber er lernte die Arbeit seines Papas wertzuschätzen.
1998 begann der Ernst des Lebens. Joseph begann seine Ausbildung
als Mecha-troniker bei der Erich Förster GmbH. Im
Berufsschulunterricht konnte er kaum etwas dazu lernen, in
Informatik wussten er und einige andere Azubis dem Lehrer noch
etwas beizubringen und in Politik konnte man in der hinteren Reihe
gut die Matheaufgaben erledigen.
Zuhause lief alles normal. Seine Schwester hatte inzwischen ihre
Liebe zum Gesang entdeckt und versuchte die Bewegungen von
Britney Spears und den Gesang der Spice-Girls zu imitieren. Die
Mutter kochte, putzte, nähte Kleider und Gardinen, wusch die
Wäsche und erinnerte an den Zahnarzt. Bei den Heimspielen stand
sie hinterm Tor, ab und zu besuchten sie und Michael Ü30-Partys
und alle zwei Jahre ein großes Konzert. Peter Maffay wurde ergänzt

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durch Wolfgang Petry und Andrea Berg, aber auch Herbert
Grönemeyer und Pe Werner. Auch englischsprachige Musik gehörte
ins CD-Repertoire. Neben dem Kuschelrock gab's selbstverständlich
den guten alten Rock ‘n Roll und Oldies der 1970er und 1980er Jahre
wurden gern gehört.
Joseph gefiel es zuhause.
Kurz vorm Ende der Ausbildung traf ein Gegenspieler Josephs
Gesicht statt des Balls. Die Zahnarzthelferin, die Dr. Gerold
Bormann assistierte, als der versuchte, den Schneidezahn zu retten,
den der Stürmer der gegnerischen Mannschaft mit seinem Schuh
verkürzt hatte, lenkte Joseph völlig von der Behandlung ab. Da war
so ein magisches Blinken in ihren Augen. Ihr sanftes Lächeln, ihre
seidigen rötlich-blonden Haare, die von dem Sonnenlicht angestrahlt
wurden, ihre anmutige Gestalt, die warme Stimme. Joseph musste sie
nach ihrem Namen fragen und ob sie am nächsten Wochenende
schon etwas vorhabe. Beinahe hätte er sich verarscht gefühlt, als sie
sagte, dass sie Maria hieße, aber dann dachte er, Maria und Joseph,
das muss ja gut gehen. Und es ging gut. Maria mochte sportliche
Typen und auch musikgeschmacklich lagen sie nah beieinander. Die
Partys und Fahrradtouren, Pauschalreisen, Computerspiele und der
Matratzensport ergänzten den Fußball, und Gisela und MariaMagdalena Herrmann passten nun gemeinsam hinterm Tor darauf
auf, dass der Keeper den Kasten sauber hielt.
Opa hatte im Oktober 2002 einen Schlaganfall und Oma zeigte
Anzeichen von Vergesslichkeit. Es ging den beiden nicht gut. Maria
und Joseph kümmerten sich intensiv um die Alten. Aber die Zeit war
gekommen und den zweiten Schlaganfall ein Jahr später überlebte
der Opa nicht. Bei Oma gab es den Verdacht auf beginnende
Demenz. Joseph trauerte sehr um den Verlust des Großvaters, die
Erinnerungen an die Züge, die vielen Stunden in der Werkstatt, den

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Quatsch, den Opa mitgemacht hatte – einmal bauten die beiden eine
Pfeilabschusskanone, um die großen schwarzen Vögel im Garten zu
verscheuchen, wobei sogar eine Krähe getroffen wurde -, die
ferngesteuerten Autos, das selbstgebaute Kettcar, ... , eine lange Liste
rief die glückliche Zeit ins Gedächtnis und ließ Bilder vorbeiziehen.
Es wuchs der Wunsch, dort leben zu wollen, wo die Erinnerungen
ihre Wurzeln hatten.
Joseph und Maria waren jetzt seit zwei Jahren ein Paar und die
beiden hatten immer noch dieses Strahlen jung Verliebter in den
Augen. Die Prognose für eine gemeinsame Zukunft war gut. In den
letzten Wochen vor dem einschneidenden Ereignis hatten sie darüber
nachgedacht, dass sie zusammen in einer gemeinsamen Wohnung
leben wollen. Maria hatte eine überzeugende Idee. Da Oma eine
intensive Betreuung brauchte, eine Heimunterbringung aber
wahrscheinlich den Verkauf des Hausanteils erzwingen würde, da
die geringe Rente nicht reicht, könnte diese Aufgabe erst mal
Josephs Mutter übernehmen. Joseph müsste sein Zimmer räumen.
Ihren Verdienstausfall sollte Joseph ausgleichen, dafür bekäme er
das Wohnrecht in der Wohnung der Großeltern. Die beiden jungen
Leute würden ihre eigenen vier Wände bewohnen. Opa hätte sich
gefreut, dass seine Werkstatt von seinem Enkel übernommen wird.
Alle fanden die Idee prima. Gisela hatte ein gutes Gewissen, weil sie
sich um die Mutter kümmern konnte.
Die Wohnung war nicht sehr groß, genau genommen eher klein. Es
gab zwei größere Zimmer und eins, das nicht einmal neun
Quadratmeter hatte. Josephs altes Zimmer hatte fast zwanzig
Quadratmeter und auch Maria stand bisher ungefähr die gleiche
Fläche zur Verfügung. In der neuen Wohnung teilten sie sich ein
Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, das dritte wurde so etwas wie
ein Hauswirtschaftsraum. Es war klar, dass ihre beiden Betten durch
ein neues ersetzt werden mussten. Das alte Ehebett der Großeltern

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landete auf dem Sperrmüll, das gleiche Schicksal ereilte den
Kleiderschrank, das alte Sofa, den Wohnzimmerschrank und vieles
mehr. Die nicht mehr jung, aber noch sehr Verliebten, wohnten
während der Renovierung bei Marias Eltern. Es war zwar ein
bisschen eng in der Nacht auf zwei mal ein Meter, aber noch
genossen sie es, eng umschlungen einzuschlafen. Die nächsten
Wochen wurde intensiv nach neuen Möbeln Ausschau gehalten. Es
stellte sich dabei heraus, dass viel Geld gespart werden kann, wenn
nicht der Montageservice der Möbelhäuser in Anspruch genommen
wird, sondern mit etwas handwerklichem Geschick Betten, Schränke
und Regale vom Mitnahmemöbelmarkt selbst zusammenbaut.
Maria war es gewohnt, dass die Entscheidungen von dem
männlichen Familienoberhaupt getroffen wurden. Ihre Mutter
machte Vorschläge, sie stellte das Für und Wider dar, aber das letzte
Wort hatte der Vater. Das funktionierte gut. Zum Einen konnte die
Mutter bei der Argumentation geschickt durch überzeugende Gründe
für ihren Favoriten und durch Betonung negativer Gesichtspunkte für
die nicht gewünschte Variante meistens das erreichen, was sie
gewählt hätte, andererseits konnte sie sich immer darauf berufen,
dass eine Pleite nicht auf ihre Entscheidung zurück zu führen war.
Die Klugheit ihrer Mutter war für Maria Vorbild. Joseph hatte ein
gutes Gefühl, nach dem Verlassen des Elternhauses nun der
Entscheider zu sein. Seine finanzielle Stellung in der Keimzelle der
neuen Familie untermauerte diese Position. Er bezahlte die Pflege
seiner Oma, die im Gegenzug das Eigentum am dem halben Haus
und Garten an ihren Enkel übertrug; seine Schwester erhielt die
Zusage für die Möglichkeit, das schuldenfreie Grundstück belasten
zu können, wenn sie bauen wolle. Sie war jetzt gerade achtzehn und
machte eine Ausbildung als chemisch technische Assistentin. Sie
dachte noch nicht an Familiengründung, an Hausbau oder an ihre
Rente. Sie wollte erst mal ihre Jugend genießen. Sie war

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einverstanden mit der Eigentumsübertragung des alten Gebäudeteils
an ihren Bruder.
Joseph und Maria richteten sich ein. Der Boden sollte wischbar sein,
es war ja nicht auszuschließen, dass einer von beiden oder die zu
erwartenden Kinder Allergiker werden könnten. In dem
Frauenmagazin, das Maria regelmäßig las, wurde häufiger auf die
zunehmende Rate von Hausstaub-, Tierhaar- oder Pollenallergien
hingewiesen. Man könne für die Gemütlichkeit ein paar schöne
Teppiche hinlegen. Parkett, Laminat, PVC, Kork, Fliesen? Fürs
Wohnzimmer ein Sofa, zwei Sofas, ein Drei- und ein Zweisitzer und
Sessel, oder ein Sitz-Liege-Kombinationsmöbel? Ein Esstisch im
Wohnzimmer füllt es zu sehr. Eine Einbauküche muss her, welche
Funktionen muss der Herd haben und die Mikrowelle? Soll’s fürs
Schlafzimmer ein Polsterbett mit Rückenlehne sein, eines mit
Metallrahmen, aus Massivholz oder ein Futon-Bett? Das Projekt
eigene vier Wände füllte die nächsten Wochen. Trotzdem musste
Joseph zum Training und am Wochenende verlangte die Torwärterei
seine volle Aufmerksamkeit. Nebenbei musste sich Maria auf die
Prüfung zur zahnmedizinischen Fachangestellten vorbereiten. Es gab
so viele Möbelhäuser, vieles versprach Gemütlichkeit und
Wohnkomfort, einiges entsprach überhaupt nicht den Vorstellungen,
wenn es überhaupt welche gab. Denn, das stellten die beiden fest, im
Grunde hatten sie sich über Einrichtungen noch nie richtig Gedanken
gemacht. In der Zeit als Teenager orientierte man sich ein bisschen
an dem, was man bei Freunden sah und gefiel oder an GZSZ und
äußerte gegenüber den Eltern Wünsche, aber die entschieden. Später
brauchte man das Bett im Wesentlichen zum Schlafen, den
Kleiderschrank für die Klamotten und den Schreibtisch zum
Anfertigen der Hausaufgaben oder als Abstellfläche für den
massigen Monitor. Um alles andere kümmerten sich die Eltern. Jetzt

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musste eigenes Geld in die Hand genommen werden und es mussten
Entscheidungen getroffen werden. Es war auch nicht sicher, ob
Maria übernommen wird. Zwar boten viele Geschäfte Ratenverträge
an, aber davon rieten die Eltern ab. Sie schlugen vor, einen Kredit
bei der Sparkasse aufzunehmen. Joseph war hier besonders gefordert,
sein Arbeitsplatz schien krisenfest zu sein, die beiden mussten also
davon ausgehen, unter Umständen nur mit seinem Einkommen
auskommen zu müssen, der zu erwartende Verdienst von Maria
sollte deshalb bei der Kredithöhe unberücksichtigt bleiben. Das
analysierte die Beraterin der Sparkasse. Sie meinte, dass Joseph
problemlos zweihundertfünfzig Euro monatlich für einen Kredit
zahlen könne und empfahl für die Einrichtung fünftausend Euro in
Anspruch zu nehmen, die wären dann in weniger als zwei Jahren
abbezahlt.
Das Buchenlaminat verlegte Joseph zusammen mit Marias Vater,
beim Streichen halfen ein paar Kumpels vom Verein, die Möbel vom
Mitnahmekaufhaus baute er mit Michael zusammen, eine
Einbauküche wurde im weltweiten Netz ersteigert und ebenfalls mit
Michael und der Hilfe Marias Vater aus- und eingebaut. Maria und
Joseph bezogen sechs Wochen nach Opas Beerdigung ihre
Wohnung.
Bisher hatten sich die beiden immer darauf verlassen können, dass
die Mütter kochten. Maria assistierte manchmal ihrer Mutter, vor
allem am Wochenende. Es kam auch vor, dass sie die Zubereitung
des Mittagsmahles in eigener Regie übernahm, das in der Regel am
frühen Abend stattfand, außer sonntags. Joseph war begeistert, dass
Marias Vater vorgab, was am nächsten Tag auf den Tisch kommt.
Das war erheblich einfacher als die ewige Fragerei seiner Mutter.
Das Resultat der Einigungsversuche zwischen ihm und seiner
Schwester arteten regelmäßig in nervendes Gezänk aus. Sie hatte an
jedem seiner Wünsche und Vorstellungen etwas auszusetzen.

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Michael trug ebenfalls nicht zu einer zügigen Entschlusslage bei, da
ihm zwar grundsätzlich alles egal war, wenn sich aber Joseph und
Jasmin geeinigt hatten, meinte er, anmerken zu müssen, dass es das
nun schon dreimal in den letzten beiden Wochen gegeben hätte.
Maria gefiel es, sich nicht umstellen zu müssen. Sie kochte gern,
aber wollte nicht auch noch darüber nachdenken, was denn auf den
Tisch kommen soll. Joseph dagegen genoss es Menüs
zusammenzustellen. Er aß gerne, abwechslungsreich und ohne
Dogma. Eine gute Bratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree
schmeckte ihm genau so gut wie ein vegetarischer Nudelauflauf oder
Grillplatten und italienische Antipasti. Die Hauptsache war, dass er
weder eine Kartoffel schälen, noch sich beim Zubereiten in
irgendeiner Form beteiligen musste. Eine weitere Organisationsform
wurde aus Marias Elternhaus kopiert, einer kocht, der andere ist für
den Abwasch zuständig.
Maria bestand die Prüfung. Sie wurde mit einer halben Stelle
übernommen und arbeitete morgens. Der Weg zur Arbeit war durch
den Umzug länger geworden, sie war jetzt auf den Bus angewiesen,
vorher war es lediglich ein Radweg von knapp zehn Minuten. Von
der neuen Wohnung brauchte sie für die Strecke bis zur Praxis fast
fünfundvierzig Minuten.. Ein Vorteil der Halbtagsstelle lag darin,
dass sie jetzt pünktlich mit Josephs Eintreffen das Essen auf dem
Tisch haben konnte. Meistens hatte sie schon einen Teil des
Abwaschs erledigt und die Bude in einen properen Zustand gebracht.
So konnte sie mit ihrem Freund gemeinsam mehr Zeit verbringen.
Ihr Bärchen, wie sie Joseph liebevoll nannte, konnte sie mit seinen
Händen und Fingern, mit Lippen und Zunge und seinem Zauberstab
wundervolle Momente erleben lassen. Sie wusste, was ihn in Ekstase
brachte und obwohl sie katholisch erzogen wurde, genoss sie die
Lust nur der Lust wegen. Joseph lag da genau auf ihrer Linie. In der

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Zeit, als allzu laut gelebte Leidenschaft Eltern oder Geschwister
gestört hätten, hatten sich beide oft zusammenreißen müssen oder es
wurde die Musik sehr laut aufgedreht. Jetzt war da kein Halten mehr.
Sie lebten sich in der neuen Wohnung ein. Freunde und Freundinnen
besuchten sie. Man kochte oder grillte zusammen, spielte
Gesellschafs- oder sah Fußballspiele, war Gast in Josephs
Stammkneipe, ging zum Stadtfest oder in die Diskothek, schaute bei
den Eltern vorbei. In Cala Rajada wurde für vierzehn Tage Urlaub
gemacht und auf Kredit ein gebrauchter Opel-Astra mit hundert PS
gekauft, um nicht immer nach einem Wagen fragen zu müssen. Das
Leben war schön.
„Wir“ wurden Papst, im Bekanntenkreis gab es die ersten
Schwangerschaften und Nachwuchs. Maria war begeistert, wenn die
kleine Lea sie mit ihren wachen Augen ansah und auf ihr Lächeln
mit einem ebensolchen reagierte, wie sich die Ärmchen ziellos
suchend hin und her bewegten, die hingehaltenen Finger griffen und
festhielten. Es gab nichts Schöneres als diesen kleinen neuen
Erdling. Wie er seine Umgebung begreifen lernte, Vertrauen zu
denen aufbaute, die er immer wieder erlebte. Maria besuchte ihre
Freundin fast jeden Tag auf dem Rückweg von Dr. Bormann nach
Hause. Lea war erheblich spannender als „Vera am Mittag“ oder
„Der Sturm der Liebe“. Es war ein wunderbares Gefühl, die Kleine
auf dem Arm zu halten, zu erleben, wie der kleine wackelnde Kopf
gehoben wurde und dann voll Erschöpfung wieder an der Schulter
landete, um sich im nächsten Augenblick erneut neugierig zu
erheben. Sandra war eine liebevolle Mutter und informierte sich
vertrauensvoll bei der eigenen über das, worauf zu achten ist, damit
die kleine Lea ein lebensfreudiges, aufgewecktes, Freude bereitendes
Kind werden könne. Sie erklärte Maria, dass es darauf ankäme zu
versuchen, die Welt aus den Augen und dem sich bildenden

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Weltverständnis des Kindes zu betrachten. „Das Kind weiß noch
nicht, was die Laute bedeuten, die es hört. Das einzige, was das Kind
von Anfang an kann, ist saugen, schreien und in die Windel machen.
Es schreit immer dann, wenn es Unbehagen wahrnimmt. Die
Ursache dafür kann Hunger sein, Frieren, Schmerz, Jucken oder der
Wunsch nach Zuwendung. Wichtig ist es, die Unmutsäußerungen des
Kindes ernst zu nehmen und zu versuchen, die Bedürfnisse des
Kindes zu befriedigen. Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, dass
es ein Urvertrauen entwickelt, das ihm hilft mit Selbstvertrauen,
selbstbewusst und selbstsicher durchs Leben zu gehen. Der oft
gehörte Ratschlag, dass man das Kind einfach mal so lange schreien
lassen soll, bis es von allein aufhört, ist Gift für die Psyche des
Kindes. Später, wenn das Kind den Sinn der Worte versteht, wird es
in vielen Fällen nicht mehr endlos schreien, bis sein Wunsch nach
Hilfe erfüllt wird. Es wird lernen den Frust des Wartens auszuhalten,
weil es Mamas oder Papas Worten vertraut. Aber solange weder ein
Gefühl für Zeit, noch das Verstehen für die Ursache des Unbehagens
vorhanden ist und mitgeteilt werden kann, ist jedes Elternteil
verpflichtet, die eigenen Bedürfnisse hinten an zu stellen. Wer das
nicht kann, sollte über seinen Kinderwunsch noch einmal intensiv
nachdenken. Ein Kind ist kein Puppenersatz.“ Maria dachte über die
Worte noch lange nach. Maria ließ Joseph an ihren Gefühlen
teilhaben, die sie erlebte, wenn sie die kleine Lea auf dem Arm hatte
oder ihr die Flasche geben durfte, und wie es war, den kleinen Po mit
dem Öltuch zu reinigen. In den Augenblicken spürt man einerseits
die Lust, die es macht, so ein kleines Wesen zu versorgen,
andererseits die hohe Verantwortung. Dass aus so einem Baby
einmal eine große Frau werden kann, das ist so unglaublich. Auch
diese kleinen Hände mit den klitzekleinen Fingern und den winzigen
Fingernägelchen – es ist so schön und wunderbar. „Die Natur hat es
schon sehr eigenartig eingerichtet, dass ausgerechnet ein Lebewesen,

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das so unfertig geboren wird, zu so außerordentlich differenzierte
Bewegungen und zu so hohen Denkleistungen und
Kommunikationsformen in der Lage ist“, hatte Sandras Mutter
gesagt. Maria spürte den eigenen Kinderwunsch in sich wachsen. Sie
wollte Mutter werden. Sie sagte es Joseph.
„Jetzt schon?“ Maria war gerade zweiundzwanzig Jahre alt und er
sechsundzwanzig. Er hatte eine gute Arbeit bei einem Betrieb, der
anscheinend krisenfest war. Er hatte schon ein eigenes halbes Haus,
ein Auto, das noch drei Jahre lang abbezahlt werden musste, und er
spürte, dass seine sportliche Karriere immer im Freizeitbereich
angesiedelt bleibt. Er war eher häuslich. Er mochte das, was seine
Frau kochte. Der Spaß an Feten und Diskobesuchen ließ langsam
nach. Dennoch meinte er, dass es noch zu früh für ein Kind ist. Er
wollte unbedingt noch einige Reisen machen, in die Karibik und
nach Koh Samui. Er wollte tauchen lernen. Er dachte daran eine
Meisterprüfung zu machen. Ein Kind würde diese Pläne
durchkreuzen. „Nein. Ich will noch nicht Vater werden.“
Maria war traurig. Sie hatte in den letzten Wochen so intensive
Erlebnisse mit Lea gehabt, dass der Gedanke an ein eigenes Kind
alles andere verdrängte. Josephs Nein ließ den Traum platzen. Seine
Argumente waren egoistisch, das Alter, na ja, vielleicht ist sie mit
zweiundzwanzig noch etwas jung, aber so alt wie diese ganzen
Karriereweiber, die erst mit fünfunddreißig und älter Mutter werden,
das war für sie eine Horrorvorstellung. Ihre Mutter war auch gerade
vierundzwanzig, als sie geboren wurde, ihr Vater achtundzwanzig.
Reisen kann man auch mit Kind. Und die Betreuung war sowieso
eher die Sache der Mutter. Was würde sich denn für Joseph ändern?
Er könnte weiterhin an seinen Motorrädern herumschrauben und sie
kocht, macht die Wäsche und putzt. Es gäbe weniger Feten mit lauter
Musik, bei denen viel getrunken wird und lallend die Begeisterung
über die Leistungen so manchen Stürmers geteilt oder Meinungen

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bezüglich der Missgeschicke des Torwarts ausgetauscht werden.
Dafür wäre das Leben durch ein kleines Mädchen oder einen Jungen
um so vieles mehr bereichert. Zum ersten Mal in ihrer Beziehung
war sie verunsichert. Vielleicht ändert er seine Meinung. Als er
abends seine typischen Rituale begann, reagierte sie ablehnend.
Nein, heute hatte sie keine Lust auf Sex.
Marias Freundin Sandra war zwei Jahre älter als sie, Leas Vater
Thorsten studierte Psychologie, die zwei lebten mit Andreas und
Sophie in einer WG. Marie kannte Sandra aus der Berufsschule. Sie
war ein dufter Kumpel. Zahnarzthelferin war nicht Sandras
Berufswunsch. Sie betrachtete das als eine Etappe auf dem Weg zum
Studium. Das Abi hatte sie gerade noch geschafft und hätte mit dem
Schnitt keinen Studienplatz in irgendeinem medizinischen Fach
bekommen. Sie wusste noch nicht, ob sie Human- oder Tiermedizin
studieren wollte und da ihr Onkel Zahnarzt ist, gerade eine
Verstärkung suchte und gerne seine Nichte in der Praxis ausbilden
wolle, befolgte sie den Ratschlag ihrer Mutter und nahm das
Angebot an. Nach der Ausbildung assistierte sie weiterhin dem
Onkel. Inzwischen fand sie Zähne sehr spannend und wollte selbst
Zahnärztin werden. Sie musste noch einige Wartesemester
überbrücken. Als die fast herum waren, wurde sie trotz der Spirale
schwanger. Eigentlich war die dafür gedacht, sich ohne Chemie und
Gummi der Lust mit ihrem geliebten Thorsten hingeben zu können.
Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, das Studium lief ihr nicht
weg. Die Entscheidung für das Kind fiel beiden nicht schwer. Sie
mochten Kinder und sahen die verrutschte Spirale als Omen für eine
Familiengründung. Sandra genoss denn auch ihre Schwangerschaft,
die völlig unproblematisch verlief. Der Kinderwunsch der Freundin
erstaunte Sandra. „Üb’ erst mal weiterhin bei Lea und lass dir noch
etwas Zeit. Joe“, sie benutzte die englische Kurzform, weil sie

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Joseph einfach zu altbacken fand, „hat recht, ihr seid für eine
bewusste Familienplanung noch etwas jung. Freizeitgestaltung ohne
Kinder ist erheblich einfacher und Reisen nach Amerika oder Asien
sind wirklich verlockend, ihr könnt in Thailand ganz billig von
einem Ort zum anderen kommen, die einzelnen Orte könnt ihr mit
einem Motorroller erkunden, ihr seid völlig flexibel. Vielleicht hast
du auch Lust, tauchen zu lernen und dann spielt ihr
Unterwasserverstecken.“ Man merkte, dass Sandra eigene unerfüllte
Wünsche aussprach. Bisher hatte sie immer den Eindruck erweckt,
dass sie in ihrer Mutterrolle völlig aufgeht, jetzt kamen Maria
Zweifel. Vielleicht war ihr Wunsch nach einem eigenen Kind
tatsächlich noch etwas zu früh. Lea war aus dem Mittagsschlaf
erwacht und beendete das Gespräch. Maria musste los. Josephs Knie
schmerzte seit Samstag und er hatte heute früher Feierabend wegen
eines Termins beim Hausarzt. Sie wollte anwesend sein, wenn er
nach Hause kommt.
Der Hausarzt vermutete mit hoher Wahrscheinlichkeit einen
angerissenen Meniskus. Er müsse vermutlich operiert werden, was
drei Monate Fußballpause bedeutete und zwei Wochen
Krankschreibung nach der OP. Joseph wurde für eine Woche
krankgeschrieben und bekam eine Überweisung zum Facharzt. Den
Termin beim Orthopäden machte Maria klar, Joseph konnte gleich
am nächsten Tag kommen. Nachdem sie die Kartoffeln und Möhren
zum Kochen gebracht hatte, wärmte sie die Reste des Bratens bei
kleiner Hitze langsam in der Sauce auf, gleichzeitig hackte sie die
frische Petersilie. Sie fragte Joseph, was sie morgen kochen solle und
sie erzählte vom Gespräch mit Sandra. „Tut mir leid, ich war ein
bisschen zickig“. Er nahm Maria in den Arm, eine innige Umarmung
ließ beide fühlen, wie sehr sie sich liebten. Die Schmerzen im Knie
trübten die Versöhnung. „Ich würde jetzt gerne mit dir schlafen, aber

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ich bin ja kein Masochist. Wir werden uns wohl die nächsten
Wochen etwas zurückhalten müssen.“
„Schade.“, sagte Maria, „ich meine natürlich nicht, dass du kein
Maso bist, sondern nur, dass wir jetzt wohl eine Zeit der
Enthaltsamkeit vor uns haben.“ Gibt es denn heute Abend etwas
Spannendes im Fernsehen?“ Es war Montag. Joseph entschied RTL
zu gucken‚ der Sender zeigte „10.5 – die Erde bebt“,
Katastrophenfilme gefielen ihm. Maria mochte diese Art Filme nicht,
zog sich zurück und las in dem Roman weiter, den sie sich von
Sandras Mitbewohnerin Sophie ausgeliehen hatte, „Die Löwin von
Aquitanien“. Tanja Kinkel schrieb wirklich sehr amüsant und scharf
beobachtend über eine Frau im Mittelalter, ihr Schreibstil
beschleunigte sich entsprechend der Geschehnisse der Geschichte
und die Spannung nahm zu. Die Charakterdarstellung der Alienor
faszinierte - sie ließ eine Frau erstehen, die außer durch äußere und
überragende Schönheit insbesondere für ihr politisches Geschick und
ihre Spitzzüngigkeit bekannt und gefürchtet war - und das in einer
Zeit, in der die Frauen des Adels häufig nur wenig mehr waren als
schmückendes Beiwerk für den edlen Ritter. Das Buch über diese
aufregende Vergangenheit zu lesen fand Maria ansprechender als
sich den Film über die zukünftige Katastrophe der USA anzusehen.
Als Joseph ins Bett kam, schlief Maria bereits.
Joseph drückte seiner Liebsten einen weichen Kuss auf die Stirn und
knipste die Leselampe aus, humpelte um das Bett herum, legte sich
leise hin und versuchte den Schmerz zu vergessen.
Der Jingle ihres Mobiltelefons holte sie aus dem Schlaf. Maria
drückte auf die Schlummertaste. Bevor ihr Wecker sie jedoch das
zweite Mal daran erinnern konnte, dass die Nacht vorbei ist, stand sie
auf, schaltete den Alarm aus und verschwand im Bad.
Normalerweise weckte sie ihren Joseph durch ein kurzes Ankuscheln
nach dem zweiten Wecksignal, um sich noch einmal für fünf

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Minuten halb schlummernd von der Nacht zu verabschieden. Joseph
war sofort wach, er kümmerte sich erst um die Kaffeemaschine,
anschließend sprang er unter die Dusche. Bei ihm ging das im Bad
etwas schneller. Das Rasieren hatte er auf den Nachmittag verlegt.
An diesem Morgen musste Joseph nicht so früh aufstehen, erst um
elf Uhr hatte er den Termin beim Orthopäden, deshalb wollte er
ausschlafen, Maria kontrollierte sein Mobiltelefon, eine Weckzeit
war nicht eingestellt. Sie aktivierte auf ihrem Handy eine Erinnerung
für neun Uhr dreißig. Der lösliche Kaffee schmeckte nicht so gut,
war aber ok. Eine Scheibe Toast mit Butter und Honig war alles, was
sie frühstückte. Beim Verlassen der Wohnung schloss sie leise die
Tür. Es war warm und da sie genügend Zeit hatte, ging sie heute zu
Fuß zur Bushaltestelle. Ihre Gedanken waren bei Joseph. Hoffentlich
ist es nichts Schlimmes. Ein Meniskusriss ist in der Regel kein
großes Problem. Die OP dauert nur dreißig Minuten, heutzutage gibt
es dank der modernen Minikameratechnik nicht mehr so große
Schnitte. Komplikationen treten in der Regel nicht auf. Umsteigen,
warten auf den Anschlussbus, die Sonne wärmte bereits. Es war ein
schöner September. Ihr Blick fiel auf die Wahlplakate: „Arbeit muss
sich wieder lohnen“, „Wir haben die Kraft“, „Wer Frieden will, muss
standhaft sein“, “Ja zu gesundem Essen“, „Millionen sind stärker als
Millionäre“. Das letzte Plakat zeigte neben der Behauptung nur eine
Nelke. Maria dachte kurz nach. Die Kraft wofür und wer hat die
nicht? Welcher Frieden? Was heißt standhaft sein in dem
Zusammenhang? Sind die anderen Parteien nicht auch standhaft.
Welche Partei spricht sich gegen Frieden aus? Lustig fand sie das
Plakat mit dem Baby und der stillenden Mutter, aber was sollte das
Bild mit der Nelke und dem Gegensatz zwischen Millionen und
Millionäre? Die Werbung, die ebenfalls in ihrem Blickfeld lag, warb
mit „Geiz ist geil“. Sie erinnerte sich an den Deutschunterricht und
das Thema Werbung. Alliteration und Assonanz fielen ihr ein.

28

„Wenn Wörter mit den gleichen Buchstaben in einem Satz anfangen,
nennt man das Alliteration und wenn sie gleiche Laute verwenden,
dann ist das eine Assonanz. Die Menschen finden so etwas gut, weil
es sich leicht einprägt“, hatte die Lehrerin gesagt. Die Werbung
benutzt das, um den Spruch mit der Firma oder dem Produkt zu
verbinden, damit wird versucht die zukünftige Kaufentscheidung zu
beeinflussen. Wenn man sich einen Fernseher kaufen will, geht man
zuerst zu Saturn, weil einem das zuerst einfällt. Kleinere
Unternehmen, die nicht so viel für Werbung oder so gute und teure
Werbefirmen ausgeben können, verlieren dadurch an Marktanteilen
und irgendwann ist er Umsatz so gering, dass die Unternehmen
aufgeben müssen.
Das alles ging Maria durch den Kopf, während sie schon wieder im
Bus saß. Mit dem Betreten der Praxis konzentrierte sie sich nur noch
auf ihre Arbeit. Um neun Uhr dreißig meldete sich das Handy. Sie
rief zu Hause an. Joseph war schon aufgestanden, er sagte, dass er sie
noch das Haus verlassen gehört hatte und nach dem Toilettengang
gleich aufgeblieben war. Er hatte ein erfrischendes Bad genommen
und frühstückte gerade. Sie schickten sich Küsse über die Leitung.
„Bis nachher.“
Als das Taxi auf den Hof fuhr, war Maria schon in der Wohnung. Sie
ging hinunter, um Joseph, der an Krücken ging, die Tür aufzuhalten.
„Was ist es?“ „Ziemlich sicher ein Meniskusschaden, die haben das
Knie in alle Richtungen gedreht und gedrückt und mich nach
Schmerzen befragt und zum Schluss noch Röntgenaufnahmen
gemacht, um andere Verletzungen auszuschließen. Die OP kann erst
in zwei Wochen erfolgen. Wenn man den Meniskus noch retten und
nähen kann, dann dauert die Heilung erheblich länger, aber ich kann
ihn noch viele Jahre nutzen. Wenn er abgeschnitten wird, ist er weg
und ich kann bereits nach vier bis 6 Wochen wieder im Tor stehen.

29

Die nächsten Jahre merke ich das nicht, aber wenn ich älter werde,
kann sich das rächen, und ich könnte erheblich früher irreparable
Abnutzungserscheinungen im Knie haben. Das Blöde ist, wenn
genäht wird, dann muss ich für ein halbes Jahr pausieren. Ich soll
darüber nachdenken, was mir wichtiger ist, ob ich schnell wieder
Fußball spielen oder lieber länger etwas vom meinem Knie haben
will.“
Maria hatte Kaffee gekocht und goss die Becher voll, in denen sie
vorher etwas Milch in der Mikrowelle angewärmt hatte.
„Ich muss unserer Personalabteilung und meinem Trainer noch
Bescheid sagen“, Joseph griff zum Telefon. Maria trank ihren Kaffee
und hörte den Gesprächen zu. Die Mitteilung an den Betrieb war
kurz, mit dem Trainer wurde ausführlicher über verschiedene
Verletzungen anderer Spieler und deren Verläufe konferiert, über
Auswirkungen auf die Spiele gesprochen, ein Ende der guten
Aufstiegschancen wurde bedauert, darüber, dass Joseph seinen
Vertreter am Spielfeldrand vielleicht mit Tipps helfen kann,
Hoffnungen wurden erwähnt und Befürchtungen. Maria hatte derweil
die Waschmaschine bestückt, die Küche gefegt und im Bad
Waschbecken und Spiegel von Wasser- und Zahnpasta-Flecken
gereinigt. Es war noch zu früh, um mit der Essenzubereitung
anzufangen. Sie setzte sich zu Joseph.
„Was wählst du?“
Joseph wusste nichts mit der Frage anzufangen. „Wir sind hier doch
nicht im Restaurant, ich sehe jedenfalls keine Speisekarte.“
„Bei der Wahl.“
„Welcher Wahl?“
„Der Bundestagswahl am 18. September.“
„Ich gehe nicht wählen. Ich habe noch nie gewählt. Um Politik
mache ich einen großen Bogen. Michael sagte immer, dass die da
oben doch machen, was sie wollen. Politiker sind Verbrecher,

30

Lügner, käuflich, verarschen einen nur. Politik interessiert mich
nicht, finde ich langweilig und verstehe ich nicht. Ende der
Durchsage.“
Maria hatte sich bei der letzten Wahl ebenfalls nicht beteiligt. Vor
allem deshalb, weil sie sich bisher zu wenig mit Politik beschäftigt
hatte und der Politikunterricht tatsächlich eher langweilig war. Das
Thema Parteien war nur sehr besonders Gegenstand im Unterricht
gewesen. Kernkraft, Umweltschutz, Nationalsozialismus und Juden
wurden intensiver besprochen. Aber ihr ging das Plakat mit der
stillenden Mutter nicht aus dem Kopf und der Spruch mit den
Millionen und Millionären. Eigentlich hätte sie gern mit Joseph
darüber gesprochen, aber seine heftige Reaktion schockierte und
irritierte sie. Sie stellte die Kaffeebecher auf die Spüle und holte
Hack- und Schneidebrett, breitete zwei Seiten des Anzeigenblattes
aus, das sie aus der Altpapierkiste nahm, reinigte die frischen Pilze
und servierte bald eine wunderbar duftende Pilzpfanne mit Reis und
Rührei.
Am Abend bekamen sie Besuch von Michael und Gisela. Josephs
Mutter war beim letzten Spiel nicht dabei gewesen und hatte erst
heute Nachmittag, als sie sich nach dem Ergebnis erkundigen wollte,
von Josephs Missgeschick gehört. Sie wollten wissen, ob er Hilfe
benötige und wie es ihm ginge. Man trank Bier und orakelte über
Abstiegsgefährdungen. Die Chance aufzusteigen ist wohl durch den
Ausfall des ersten Keepers jetzt vorbei, wurde bedauernd festgestellt.
Zum Schluss wurden noch der famose Sieg in der Formel I von
Montoya in Monza und die Höhepunkte des Rennens reflektiert,
„dreihundertsiebzig Sachen Top Speed, Wahnsinn“. Wiederholt
wurde Schumachers anscheinendes Ende bedauert und die Probleme,
die Ferrari hatte. Maria fand diese Sportbegeisterungsgespräche nicht
erbaulich und suchte mit ihrem Historienschinken Ruhe im Bett. Um

31

dreiundzwanzig Uhr gingen die Eltern nach Hause und Joseph
schlafen.
Am Mittwoch verspürte Maria keinen Drang unmittelbar nach der
Arbeit nach Hause zu fahren. Sie hatte Lust auf Leas Lächeln.
Sandra freute sich die Freundin zu sehen, selbstverständlich hörte sie
sich den Bericht über den Meniskusriss interessiert an. Die Kleine
war heute besonders lebendig. Sandras Mutter Sabine war zu
Besuch: „Zehn kleine Zappelmänner zappeln auf und nieder ...“ Die
Augen des Babys verfolgten die sich bewegenden Hände
aufmerksam. Die Händchen griffen nach allem was sich in
Reichweite befand. Lea konnte jetzt selbständig im Hochstuhl sitzen.
Sie klopfte mit dem Löffel laut auf die Holzplatte des Stuhls.
Beiläufig erwähnte Maria das Plakat mit dem saugenden Baby.
„Ach die Grünen!“ Enttäuschung und Missachtung lag in diesen drei
Worten. Sandras Mutter ergänzte ihre Ablehnung der Öko-Partei mit:
„Diese Kriegsverbrecher, früher fand ich die auch mal gut, aber die
haben sich total kapitalkonform verbogen.“
„Ach Mama, du bist wieder völlig krass drauf.“
„Kind, behalte du deine Hoffnung und dein TAZ-Abo. Die einzige
Grüne, die ich heute noch gut finde, ist die Jutta Ditfurth, die ist sich
treu geblieben. Aber ansonsten tendiere ich eher in Richtung
Libertäre. Die haben einen Spruch, der nach dem Jugoslawienkrieg
zu meinem Motto geworden ist. Der heißt ‚wenn Wahlen etwas
verändern würden, wären sie verboten’. Wahlen verändern sowieso
nichts und deshalb gehe ich zwar in die Wahlkabine, mache aber nur
ein ganz großes Kreuz über den ganzen langen Zettel.“
Maria war wieder irritiert. Joseph geht nicht wählen, weil er Parteien
für Verbrecher und Lügner hält. Sandras Mutter wählt ungültig.
Beide beteiligen sich nicht an der Wahl, aber irgendwie schien
Sabine das anders zu begründen als Joseph, obwohl es sich teilweise
gleich anhört. Der Unterschied bestand vor allem darin, dass Joseph

32

kein Interesse und keine Ahnung von Politik hatte, während bei
Sabine anscheinend das Gegenteil der Fall war.
„Morgen kommen zu Mai-Britt Illners Polittalk Joschka Fischer von
den Grünen, Lafontaine von der PDS und Westerwelle von der FDP,
wird bestimmt interessant. Guck dir das mal an!“, mit den Worten
verabschiedete Sandra ihre Freundin.
Donnerstag wurde Maria gebeten, länger zu bleiben, sie könne mit
dem Chef und seiner Frau zusammen essen, eine Kollegin war
kurzfristig krank geworden. Die Situation gab es schon einmal und
das war kein Problem gewesen. Für solche Fälle hatte sie im Eisfach
einen leckeren Eintopf. Heute jedoch war ihr Joseph nur
eingeschränkt beweglich. Als Maria ihn bat, den Eintopf auftauen zu
lassen und sich eine Portion in der Mikrowelle aufzuwärmen, zeigte
er Verständnis, er riss selbst im Augenblick an seinem Arbeitsplatz
eine Lücke. Der Arbeitstag war anstrengend, es wurden mehrere
Wurzelbehandlungen durchgeführt und das lange Stehen und
konzentrierte Absaugen fiel ihr schwer. Sie stand nicht so gern am
Stuhl, sondern machte lieber den Schreibkram und Termine. Maria
kam erst am frühen Abend nach Hause.
Joseph begrüßte seine Maus mit einem Kuss und der Warnung
„Achtung, mir ist ein Teller heruntergefallen.“
Maria sah das Malheur, der Eintopf und die Scherben des Tellers
hatten sich quer über den Küchenfußboden verbreitet. Sie machte
sauber und war sauer. Kann der denn nicht besser aufpassen, und
dann war sie sauer auf sich, dass sie ihm heimlich diese Vorwürfe
machte. Ihre Laune war auf dem Tiefpunkt.
„Ich möchte heute Abend Berlin-Mitte sehen.“
„Was ist das denn, eine neue Serie?“
„Nein, eine politische Talk-Show.“

33

„Eine was? Politische Talkshow? Bevor so ein Scheiß von meinem
Fernseher ausgestrahlt wird, will ich noch das Ende Amerikas sehen,
heute läuft der zweite Teil von ‚10.5’.“
Maria griff zum Telefon, ja, sie könne gerne vorbei kommen, die
WG schaut gemeinsam. „Ich gehe mir den Scheiß bei Sandra und
Thorsten ansehen. Tschüss.“ Die Tür fiel lauter als sonst ins Schloss,
als Maria die Wohnung verließ.
„Hallo Marie, was ist los, das gab es doch noch nie, dass du dein
Bärchen am Abend allein gelassen hast?“ Sandras Begrüßung ließ ihr
auf einmal klar werden, dass sie in der Tat bisher immer erst nach
seinen Interessen handelte und eigene Wünsche niemals gegen ihn
durchgesetzt wurden. Wenn ihr sein Fernsehprogramm nicht gefiel,
dann ging sie üblicherweise in die Küche oder ins Schlafzimmer und
las, aber ein außerhäusiges Alternativprogramm zu entwickeln und
zu verfolgen, kam ihr bisher nie in den Sinn.
„Da möchte ich einmal eine Sendung sehen, die nichts mit Sport,
Spiel, Spannung zu tun hat, und der flippt aus. Als Scheiß hat er die
Talkshow bewertet und sprach von seinem Fernseher. Wenn er sich
nicht informieren oder begreifen will, was in unserem Land politisch
läuft, dann lasse ich ihm dies, aber meine Wünsche so
abzuschmettern und so niederzumachen, das ist nicht ok. Bisher
dachte ich immer, wir wohnen zusammen und der Fernseher ist
unserer, aber plötzlich ist das seiner. Wir sind doch ein Paar, ich
möchte mit ihm Kinder haben und“, Maria schluchzte, Sandra nahm
sie in den Arm.
„Komm, setz dich erst mal hin. Möchtest du einen Tee oder lieber
ein Wasser?“
„Einen Tee bitte, so einen wie neulich, der war sehr lecker, ich
glaube, das war einer mit Zimt.“

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„Du meinst sicherlich den Yogi-Tee, ich werde eine große Kanne
kochen, mach dich erst mal ein bisschen frisch und dann gehen wir
rüber zu Sophie und Andreas, die haben eine größere Glotze.“
Im Zimmer von Andreas sah es aus wie auf einem Flohmarkt.
Diverse Fahrradteile lagen in einer Ecke neben dem uralten
Kleiderschrank, auf dem sich eine Sammlung alt aussehender
Kerzenständer tummelte. Das Hochbett wäre bei der Größe des
Zimmers eigentlich nicht nötig gewesen, aber es schuf Platz für
anderen Krempel und ein grünes Sofa, dass er aufgebockt hatte, um
am ausklappbaren Wohnzimmeresstisch aus den 1970er Jahren
arbeiten zu können. Einen Schreibtisch gab es nicht, das Notebook
lag auf einem Nierentischchen neben dem Sofa. Andreas hatte drei
unterschiedliche Stühle an dem Tisch stehen, die nicht zueinander
passten, einen dunkelbraunen mit Sitz aus Bastgeflecht, einen
Schwinger im Bauhausstil und einen modernen aus hellem
Kiefernholz mit höherer Lehne. Das heterogene Ensemble befand
sich unter dem großen Doppelbett. Der Multifunktionstisch wurde
von zwei Autoscheinwerfern beleuchtet, die in den Ecken unter dem
Bett angebracht waren, die Lichtkegel trafen sich genau in der Mitte.
Gegenüber vom Mittelpunkt des Sofas befand sich auf einem Turm
zusammengeschweißter alter, grün lackierter Autofelgen eine fest
mit dieser Säule verbundene riesige Glotze. Die Pfeiler, die das
Hochbett trugen, waren gespickt mit Spaxschrauben in
verschiedenen Größen, an denen ein Paar lederne Schlittschuhe, eine
alte Blechschere, ein Autospiegel, eine Maske von Bush und jede
Menge anderer Krimskrams hing, es gab auch Beutel mit
Überraschungseierinhalten und eine mit Plastikfiguren, Cowboys,
Ritter, Tiere, Dinos. Das Kurioseste war die Klobrille am
Kleiderschrank. Andreas sah Marias fragenden Blick. „Ich hasse
dreckige Spiegel“, er ging zu dem Sanitärteil, klappte die Brille hoch
indem er an einem weißen Spülkastengriff an einer Kette neben der

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Klobrille zog, und zeigte den sich im Toilettenring befindlichen
Spiegel. Maria musste herzlich lachen. Sophie saß auf dem Sofa. „Ja,
mein Messi ist schon ganz schön durchgeknallt, aber wir haben eine
große Gemeinsamkeit, du wirst hier kein einziges rosa Teil finden
und erst recht nichts, was irgendwie an Barbiepuppen oder so
erinnern könnte. Wir hassen diese Mattelscheiße, vermutlich weil wir
davon als Stöpsel eine Überdosis genossen haben, ich persönlich und
Andi über seine Schwester, die genauso alt ist wie ich.“
„Setz dich mit aufs Sofa“, lud Sophie ein, „die Kerle können heute
mal auf den Stühlen platzen“, und zu Sandra gewandt, die jetzt mit
dem Tee und einigen Bechern kam, „komm zu uns Sandy, heute
gibt’s Frauenpower, wir sind in der Überzahl.“
„Dann wählt ihr alle die CDU aus Solidarität mit Angela“, frotzelte
der Sammler. „Frauen, die sich wie Männer verhalten, sind
unsolidarisch mit ihrem Geschlecht und fallen durchs Sieb. Und wer
als Frau in diese Position kommt, der muss schon ziemlich männlich
sein!“, bekam Andreas von Sophie zurück.
„Was ist denn typisch männlich und typisch weiblich?“ Thorsten, der
gerade hereinkam, warf die Frage in den Raum, um anschließend
gleich seine Antwort zu geben. „Wenn ihr euch nicht auf das Niveau
von Klischees herablassen wollt, dann werdet ihr diese Frage nicht
beantworten, weil sie nicht beantwortbar ist. Biologische Merkmale
erzwingen kein typisches Verhalten, außer vielleicht die Tendenz,
sozialer beziehungsweise ganzheitlicher zu denken, wenn man
einmal eine Schwangerschaft erlebt hat, weil dies, da das Leben in
sich als Teil von sich, der dann eigenständig wird, erfahren zu haben,
diese Haltung fast zwingend determiniert, jedenfalls bei einer nicht
traumatisierten Psyche. Frauen, die Kinder bekamen, können also
eher verstehen, dass die Natur außerhalb des ich zu einem gehört.
Kulturelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern weichen jedoch

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in unterschiedlichen Kulturen geografisch und temporär stark
voneinander ab.“
„Professor, halts Maul und gib mir lieber einen Kuss!“ Thorsten ging
zu seiner Sandra und kam dem Wusch nach. Maria war von der
Situation leicht überfordert. Das, was der angehende Psychologe
gesagt hatte, konnte sie kaum verstehen, aber es hörte sich klug an.
Sie spürte ein leichtes Unbehagen in der Runde dieser Leute mit
Abitur. Andererseits war sie gespannt auf das Kommende.
In der Diskussion der Sprecher der drei kleineren Parteien, die
wahrscheinlich im nächsten Bundestag vertreten sein würden, ging
es
vor
allem um Steuerfragen. Alle drei lehnten
Mehrwertsteuererhöhungen ab, dann war es aber vorbei mit den
Gemeinsamkeiten. In einigen Fragen lagen Lafontaine und Fischer
auf einer Linie und stritten sich heftig mit dem FDP-Chef. Fischer
sagte, selbst wenn alle Ausnahmetatbestände von der
Einkommensteuer gestrichen würden, müsste der Staat die Bürger
immer noch nach Leistungsfähigkeit besteuern. Auch der Linke
Lafontaine sprach sich für einen linear-progressiven Tarif als
Element der Gerechtigkeit aus. Westerwelle warb für niedrige
Steuersätze, die von allen bezahlt werden müssen. Er wies darauf
hin, dass das dreistufige System der FDP eine Komponente zur
Entlastung von Familien aufweise. Fischer, Westerwelle und
Lafontaine lehnten auch die von der Union geplante
Mehrwertsteuererhöhung ab. Fischer hielt Westerwelle jedoch vor, er
wolle gemeinsam mit der Union einen Systembruch, der eine tiefere
Spaltung unserer Gesellschaft bringen wird. Westerwelle verteidigte
seinen Ansatz, durch eine wirtschaftsfreundliche Politik mehr
Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Lafontaine kündigte an, sich
weiterem Sozialabbau zu widersetzen. Mit Blick auf den
Arbeitsmarkt bekräftigte Lafontaine die Forderung der Linkspartei
nach
einer
Rücknahme
der
Hartz-Vier-Reform.
Im

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Gesundheitsbereich plädierte er ebenso wie Fischer für die
Einführung einer Bürgerversicherung mit einkommensabhängigen
Beiträgen für alle Versicherten. Fischer sagte, es müsse so bleiben,
dass er als gutverdienender Minister einen hohen Beitrag zahle und
sein Fahrer weniger. Fischer verteidigte die von der rot-grünen
Bundesregierung beschlossenen Reformen. Er verwies darauf, dass
es mit Hartz-Vier gelungen sei, Sozialhilfeempfänger, darunter allein
erziehende Mütter und viele junge Menschen, aus der Sozialhilfe
herauszuholen. Lafontaine bevorzugte eine große Koalition als
Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl. Schwarz-Gelb würde
größere Einschnitte ins soziale Netz und eine größere Beschneidung
von Arbeitnehmerrechten bedeuten, befürchtete er. Lafontaine lehnte
eine Ampelkoalition als Alternative zu Schwarz-Gelb oder einer
großen Koalition kategorisch ab. Lafontaine und Fischer äußerten
beide den Wunsch, dass ihre Partei drittstärkste Kraft werde.
Der Fernseher wurde ausgeschaltet. Sophie musste sich
positionieren. „Mir gefallen die Grünen am besten. Die sind weder so
links wie der PDS-Oskar, dem man ja auch nicht wirklich glauben
kann, noch so neoliberal wie die FDP. Überhaupt freiheitlich, was
heißt das denn, die sind doch nur für freie Marktwirtschaft, ansonsten
rüsten sie den Bullenstaat voll mit auf. Ich finde ja ganz wichtig, dass
wir auch morgen noch gesunde Nahrung haben und die Umwelt
erhalten bleibt, wenn wir alle ein bisschen bewusster leben würden,
dann gäbe es gar keine Atomkraftwerke und diesen Kohledreck. Wir
könnten so viel Energie sparen und mit Sonne und Wind erzeugen,
und –“ Thorsten fiel ihr ins Wort, „wir wissen ja, dass du die Grünen
favorisierst, aber in dieser Diskussion ging es in erster Linie um die
Frage, wer bezahlt für wen welche Leistung und was wollen wir uns
leisten und wer kann das am besten umsetzen. Die Stichworte dazu
sind Steuererhöhungen, Steuererleichterung, Subventionen und
Subventionskürzungen respektive Streichungen.“ Maria fiel Thorsten

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ins Wort: „Entschuldigt, aber das war für mich ein harter Tag, ich
fand’s gut, dass ich zu euch kommen konnte und ich fand das
Gespräch auch interessant, obwohl ich ehrlich gesagt maximal nur
ein Drittel davon verstanden habe. Ich möchte jetzt nach Hause
gehen, morgen wird es wieder anstrengend. Ich muss noch einmal
meine Kollegin vertreten, der Eintopf, der für morgen reichen sollte,
hat die halbe Küche versaut, überall sind noch Spritzer an den
Möbeln, die ich noch nicht weggeputzt habe, und für morgen habe
ich noch nichts, was mein Joseph essen kann. Für heute habe ich
genug. Ich bin müde, ich will schlafen.“
Andreas machte ein Angebot, damit Maria möglichst schnell in ihre
Wohnung zurückkommen könne: „Soll ich dich eben mit dem Roller
nach Hause bringen? Ich denke, du kannst Sophies Jacke überziehen
und ihren Helm nehmen, ihr habt ungefähr die gleiche Größe.“
„Ist ok!“, gab die Genannte ihr Einverständnis. Dank Andreas
schnellen Transports war Maria um zweiundzwanzig Uhr dreißig zu
Hause. Die Erde hatte aufgehört zu beben und Kalifornien hatte sich
von den USA entlang der Andreasspalte gelöst. Die Heldin hatte das
Inferno überlebt, die schlimmsten Verbrecher nicht. Eine typische
Hollywoodstory hatte Joseph unterhalten. Er war im Bad, als Maria
kam. Maria entkleidete sich nur und legte sich sofort ins Bett, sie
hatte keine Lust auf weitere Gespräche. Als Joseph ins Zimmer kam,
merkte sie es zwar, reagierte aber nicht mehr. Er schaltete das Licht
aus und beide lagen noch lange schweigend nebeneinander. Er hatte
das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Schließlich war er
verletzt und dadurch behindert, den Teller hatte er nicht mit Absicht
zerdeppert, und dann hatte er etwas aus Wut gesagt, was gar nicht so
gemeint war. Nach einer gefühlten Ewigkeit siegte die Müdigkeit
und zog beide in den Schlaf.
Auf dem Weg zur Arbeit betrachtete Maria wieder die Plakate.
„Millionen sind stärker als Millionäre“, darunter stand „kämpfen für

39

eine bessere Welt, solidarisch, gerecht und friedlich“, ihr fielen die
Worte von Lafontaine wieder ein und sie dachte über das Wort
Sozialabbau nach. Etwas, was man abbauen kann, muss zuvor
errichtet worden sein oder muss sich entwickelt haben. Was haben
wir denn in Deutschland an sozialen Dingen? Was heißt das
überhaupt, sozial? Ihr fiel das Sozialamt ein, sie wusste, dass
Menschen, die keine Arbeit haben, zum Sozialamt gehen können und
dort Geld bekommen, damit sie nicht hungern oder auf der Straße
betteln müssen. Soll das abgebaut werden? Nein, dafür hatte sich
keiner ausgesprochen. Es ging um das Wort Hartz-Vier. Das bekam
man jetzt, wenn man kein Geld oder zu wenig zum Leben verdiente.
Sie bekam für die halbe Stelle knapp sechshundert Euro netto. Miete
musste sie keine zahlen, als Joseph und sie zusammenzogen, hatten
sie sich darauf verständigt, dass sie die Lebensmittel und die
Verbrauchsdinge des Haushalts bezahlt und er alles, was mit
Wohnen zu tun hat. Sie hatten bei dem Kredit für die Einrichtung
erst überlegt, ob sie sich die Raten teilen. Joseph meinte jedoch, falls
sie sich mal trennen sollten, bleibt das meiste doch in der Wohnung.
Deshalb übernahm er den Kredit allein. Sie hatte einen
vermögenswirksamen Sparvertrag, aber sie wusste weder wie viel
Guthaben sie hat, noch wann der Vertrag fällig wird. Sie hatte ihn
mit Beginn der Ausbildung abgeschlossen. Ihr Vater hatte ihr dazu
geraten. Der Staat zahlt etwas dazu. Ist das eine Sozialleistung? War
sie Sozialleistungsempfängerin? Wie viel bekam überhaupt ein
Sozialhilfeempfänger? Wie viel braucht man zum Leben?
Der Arbeitstag war wieder anstrengend gewesen, aber nicht so
schlimm wie am Tag zuvor. Als sie auf den Anschlussbus wartete,
wurde sie von einer jungen Frau abgelenkt, die drei Kinder bei sich
hatte, eins in einem Buggy und zwei größere. Das Mädchen spielte
mit dem Einjährigen, der Spaß daran hatte, die ihm gereichte leere
Flasche möglichst weit aus der Karre zu werfen und sie dann von der

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Schwester aufheben und wiedergeben zu lassen. Der Junge hatte
einen kleinen grünen Plastikpanzer, mit dem er über die Sitzbank des
Wartehäuschens fuhr und dazu Schussgeräusche ertönen ließ. Die
Frau hatte kein Kopftuch, war aber offensichtlich nicht deutscher
Abstammung. Ein paar Jugendliche kamen vorbei und einer rief „He
du Kanakensau, hau ab zu deinem Scheich“, und die beiden anderen
riefen laut ähnlich einem Schlachtgesang „Kinder statt Inder, aber
nur mit deutschem Blut, das ist für Deutschland gut.“ Niemand der
Wartenden reagierte. In dem Augenblick kam der Bus. Maria hätte
gern etwas Entschuldigendes gesagt, aber die Zeit reichte nicht aus.
Sie schämte sich für diese Deutschen.
Joseph war mit seinen Krücken bis zum Supermarkt gelaufen, um
dort Marias Lieblingstorte zu kaufen und er hatte Kaffee gekocht.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Strauß Blumen, eine
große Kerze brannte, aus den Boxen rockte es kuschelig. Maria nahm
ihr Bärchen in den Arm. „Du alter Stiesel“, sagte sie nach einem
innigen Moment der Einigkeit.
„Ich liebe dich doch“. Josephs Bekenntnis hatte ein Wort zu viel.
Dieses Doch, was soll das? In einem Song singt Marius MüllerWesternhagen „ich liebe dich, obwohl ich dich geschlagen habe“,
dieses Doch erinnerte an das Lied. Joseph hat mich nicht geschlagen,
wir hatten lediglich einen kleinen Streit, aber seine Worte wirkten
wie Schläge, eigentlich nicht die Worte, sondern eher wie das kam.
Nach dem kurzen Moment des Innehaltens erwiderte Maria: „Ich
liebe dich auch.“ Maria erzählte von der Begebenheit an der
Bushaltestelle. Sie sagte, dass ihr die Frau leidtat, „vielleicht spricht
die nicht mal gut Deutsch und hat diese Jungs gar nicht verstanden“
und sie hoffte, dass die Frau so etwas nicht so oft erlebt. Joseph
bemühte sich, nicht reflexartig zu wiederholen, was er von Michael
dazu einmal gehört hatte, nein, sag jetzt nicht, dass die hier
karnickeln wie die Blöden und dann uns Steuerzahlern auf der

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Tasche liegen, war sein Gedanke. Er lenkte den Blick auf die
Jugendlichen. „Die haben das bestimmt nicht so gemeint, das sind
dumme Jungs, die wollen sich nur aufblasen.“
Maria versuchte die Sicht ihres Freundes einzunehmen. „Vielleicht
hast du Recht, in der Pubertät macht man viel Quatsch, die wollten
bestimmt nur zeigen, dass sie unheimlich stark sind. Trotzdem tut
mir die Frau leid.“
Sie hatten Sex im Schongang, Maria saß auf Joseph und ließ ihn mit
weichen Wippbewegungen ihres Beckens ganz langsam kommen,
anschließend streichelte Joseph seine Maria bis zu einem kleinen
Höhepunkt. Sie schliefen entspannt ein.
Maria arbeitete noch die nächste Woche voll durch. Da sie immer gut
bei ihrem Chef essen konnte, hatte sie, was eigentlich unüblich war,
für Joseph ein paar Fertiggerichte gekauft, die er nur noch
aufwärmen musste. Joseph hatte dem zugestimmt, aber nur damit die
Stimmung sich nicht wieder verschlechtert, eigentlich wäre es ihm
lieber gewesen, dass Marie ihm fünf Portionen Eintopf gekocht hätte,
zweimal Erbsensuppe und dreimal Linsensuppe. So aß er dann
Gyrospfanne, Tortellini in Rahmsauce, irgendein Reisgericht,
Bamigoreng und einmal Erbsensuppe. Aber das Selbstgekochte
schmeckte erheblich besser.
Sandra hatte gemerkt, dass die Woche für Maria ziemlich stressig
war und gefragt, ob sie und ihr Joseph nicht Lust hätten, am
Samstagabend mitzukommen, Thorstens Bruder spielte Trompete in
einer Ska-Band. „Das ist einfach Gute-Laune-Musik, hinterher
können wir noch bei uns was trinken und ein bisschen klönen. Unser
Babysitter kann leider nur bis dreiundzwanzig Uhr. Andreas und
Sophie müssen zum dreißigsten Geburtstag von Sophies Bruder. Der
muss die Domtreppen fegen, weil er noch nicht verheiratet ist. Das
ist eigentlich Blödsinn, wer ist denn heute noch vor dreißig
verheiratet? Aber Hauptsache, es gibt einen Grund zum Feiern. Wie

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lange das Ganze dann noch dauern wird, mit Fete und so, kann
keiner vorhersagen.“
Joseph mochte nicht mitkommen, die Schmerzen im Bein waren
weniger der Grund, aufgrund der Salbe, der Schmerztabletten und
des Ruhighaltens spürte er seine Verletzung kaum; er mochte
Thorsten nicht, hatte das aber bisher nicht gesagt. Thorstens Vorträge
nervten ihn. „Wenn du gerne möchtest, dann geh nur, Mark und
Simon hatten schon gefragt, ob wir nicht mal wieder ´nen schönen
Skatabend machen wollen, vielleicht klappt das noch, sonst gibt’s
vielleicht etwas Gutes im Fernsehen, ich hab‘ schon gesehen, dass
bei Kabel- Eins, allerdings erst um zehn Uhr‚ ‚Full-Metall-Jacket’
läuft, den Film würde ich gern mal wieder sehen.“
Maria kannte Ska nicht und war von der Fröhlichkeit dieser Musik
freudig überrascht. Trompete hatte sie immer dem Jazz zugeordnet
und das war nicht unbedingt ihre Musik, aber diese Musik ließ sie
sofort mitzucken. Die Leute waren nicht besonders gekleidet, es gab
zwar manche mit Hut, Hosenträger fielen ihr auf, aber die meisten
waren ohne Besonderheiten, auch die Frauen waren überhaupt nicht
aufgebrezelt, keine hatte diese engen Leggins an, es gab kein Glitzer
und keinen auffälligen Modeschmuck. Alle hatten gute Laune. Es
gab niemanden, der auf dem Stuhl saß und abschätzend die anderen
musterte. Das Publikum hüpfte und tanzte einfach so vor sich hin. Es
tanzte nicht einer mit einer anderen, sondern alle gemeinsam nahmen
den Rhythmus in sich auf und bewegten sich zu der Musik. Man
wunderte sich, dass sich bei der kleinen Bühne die Musiker nicht
gegenseitig störten, aber es funktionierte und alle hatten Spaß. Sie
trank Bier und nach dem zweiten hatte sie dieses Gefühl von
Leichtigkeit und Lust. Die Musik ermöglichte kein ernsthaftes
Gespräch und im Augenblick war ihr auch nicht danach. Plötzlich
tauchte Andreas auf.

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„Hi! Wo hast du Sophie gelassen?“, brüllte Maria gegen den Chor
der Bläser an.
„Wir haben uns für heute getrennt!“, schrie Andreas zurück und
ergänzte „Sophie hat zu viel Wodka-Lemon getrunken und flirtet
heftig mit irgend so einem Parteifuzzi von den Grünen. Wir sehen
das immer ganz nüchtern, jeder darf auch mit anderen seinen Spaß
haben, keiner von uns bindet den anderen fest. Aber ich muss mir das
nicht
ansehen, wenn so ‘n Hobbyornithologe seine
Vogelbeobachtungen schildert und Sophie voll darauf abfährt.“
Andreas hatte schon das eine oder andere Bier auf. „Deshalb bin ich
lieber zu euch gestoßen. Geile Mucke.“ Maria spürte, dass ihr die
Anwesenheit von Andreas nicht unangenehm war. „Bringst du mir
noch eins mit!“, bat sie Andreas, als der verkündete, dass er sich
noch ein Bier holt. Thorsten trank Wasser und Sandra hatte in ihrem
Weinglas noch genug. Es war schon zweiundzwanzig Uhr vierzig,
Sandra und Thorsten wollten los wegen des Babysitters.
„Seid ihr böse, wenn ich nicht mitkomme, mir gefällt die Mucke so
gut und mit Andreas habe ich ja jetzt auch einen Beschützer!“, schrie
Maria lachend in Richtung der jungen Eltern. „Du bist erwachsen!“,
schrie Sandra zurück und beide wünschten Andreas und Maria noch
einen schönen Abend.
Die Band spielte bis kurz nach Mitternacht. Maria hatte sich bei
Andreas untergehakt und beide gingen beschwipst durch die Straßen
zur WG-Wohnung. Am Morgen wachte Maria auf dem grünen Sofa
auf. Sie hatten sich geküsst und miteinander geschlafen, Andreas
hatte trotz der Promille noch an das Kondom gedacht. Es war in den
vier Jahren mit ihrem Joseph das erste Mal, dass sie fremdgegangen
war, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte Spaß gehabt, es hatte ihr
gefallen. Soweit sie sich erinnern konnte, war der Sex auch nicht
schlecht gewesen. War es schlimm? Hatte sie etwas Verwerfliches
gemacht? Sie war nicht mit Joseph verheiratet, aber sie hat sein

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Vertrauen missbraucht. Er hatte nie darüber gesprochen, dass
außerhalb der Beziehung nichts läuft, nichts laufen darf. Irgendwie
waren sich beide stillschweigend einig gewesen, dass das so ist,
jedenfalls glaubte das Maria.
„Hi Marie.“ Sophies Stimme holte sie aus ihren Gedanken zurück.
„Möchtest du ein Ei zum Frühstück, eins von glücklichen Hühnern
aus dem Bioladen? Ich hoffe, du hast dich nicht in Andreas verliebt,
denn dann kratze ich dir die Augen aus.“ Maria kam mit der
Situation nicht klar. Die Frage nach dem Ei beantwortete sie mit
einem stockenden „ja gerne“, aber wie locker Sophie damit umging,
dass eine andere Frau gerade mit ihrem Freund was hatte, das konnte
sie so schnell nicht begreifen. Ich muss zu Hause anrufen, schoss es
ihr durch den Kopf. Joseph wird sich vielleicht Sorgen machen, wo
ich geblieben bin.
Das Handy klingelte, Joseph taste nach dem Mobiltelefon. „Hallo“,
die krächzende Stimme klang nach sehr viel Alkohol. „Ach du bist
gar nicht da, hab´ ich gar nicht gemerkt. Was ist los, du klingst so
komisch, du bist noch bei Sandra, hab ich mir gedacht, wo denn auch
sonst, nein, das ist nicht schlimm, wenn du erst später kommst, ich
penn dann noch 'ne Runde, tschüss.“
Ich kratze dir die Augen aus, hatte Sophie gedroht, Maria hatte sich
tatsächlich verliebt. „Scheiße.“ Sie ging unter die Dusche, Sophie bot
ihr ein paar Kleidungsstücke von sich an, sie meinte, dass die
anderen arg nach Kneipe riechen. Maria nahm das dankend an. In der
Küche saßen Andreas, Thorsten, Sandra und Sophie. Sie begrüßten
Maria.
„Heute ist Wahltag, will irgendeiner von euch noch einen Tipp
abgeben, wer wie viel Prozent bekommt?“, fragte Thorsten und zu
Maria gewandt, „hast du dich denn jetzt schon entschieden, wem du
deine Stimme geben willst oder dürfen wir dich ein bisschen
agitieren? Hier haben wir eine sehr gemischte Wählerschaft von ganz

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links bis weniger links und sozialliberal- ökologisch. Also ich wähle
– wenn auch mit großen Bauchschmerzen, weil der Schröder nun
wirklich unheimlich arrogant ist, aber die SPD für mich immer noch
die kompetenteste in Sachen realistischer Sozial- und
Wirtschaftspolitik ist, die eben erwähnte. Sophie wählt grün, das
weißt du schon, Andreas will es diesmal mit der PDS probieren,
getreu seinem Motto, ich mag alten Trödel, was die Mutter meiner
Tochter favorisiert, ist mir bis heute nicht ganz klar geworden. Ich
glaube, sie würde am liebsten rot-rot-grün wählen und wird sich für
eine der drei Komponenten in der Kabine entscheiden.“
Im Augenblick hatte Maria andere Sorgen. Sie hatte sich zwar in den
letzten beiden Wochen schon des Öfteren mit der Wahlentscheidung
beschäftigt, aber festgestellt, dass sie eigentlich viel zu wenig von
Politik und Wirtschaft versteht. Wenn sie jetzt wählen geht, dann
kann sie nur nach Sympathiewerten entscheiden. Am ehesten neigte
sie zu den Grünen, aber auch die PDS fand sie interessant. Die FDP
mochte keiner und sie fand den Westerwelle auch nicht überzeugend.
„Ich weiß schon was ich wähle, aber ich sage es nicht, schließlich
haben wir in Deutschland das Wahlgeheimnis.“ Damit war das
Thema vom Tisch. Das Konzert wurde noch einmal positiv erwähnt,
über die Kaffeebecher hinweg begegneten sich Andreas und Marias
Blicke. War es nur eine Gelegenheit oder war da mehr? Maria wollte
nach Hause. Zum Abschied umarmten sich Sandra und Maria,
Thorsten winkte und wünschte einen schönen Sonntag, auch Andreas
nahm Maria in den Arm, die Umarmung dauerte für eine einfache
Verabschiedung einen Augenblick zu lange. Das kurze Tschüss von
Sophie hatte den warnenden Unterton eines guten Ratschlags.
Joseph schlief noch, auf dem Tisch im Wohnzimmer standen zwei
leere Flaschen Gorbatschow, mehrere leere Flaschen Cola und drei
Gläser. Die Karten lagen da und eine fast leere Schale mit ChipsResten. Sie nahm einen Zettel und schrieb darauf: „Hallo Bärchen,

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ich“, sie riss den Zettel aus dem Block, zerknüllte ihn und schrieb,
„Hallo Joseph, ich bin wählen gegangen. Maria“.
Millionen gegen Millionäre, warum ist die Araberin hier, gutes
Essen, Kinder statt Inder, soziale Steuerpolitik, wir haben die Kraft,
standhaft sein, großes Kreuz über den ganzen Zettel, Politiker
Verbrecher,
Solidarität,
Sozialabbau,
Hartz-Vier,
Wirtschaftskompetenz.
Maria war in der Wahlkabine. Der Zettel war sehr groß. Es gab nicht
nur die Parteien, über die sie bisher gesprochen hatten, insgesamt
fünfundzwanzig Parteinamen befanden sich auf dem Zettel. Sie
suchte die PDS und machte ihr Kreuz bei der Zweitstimme, die erste
gab sie der grünen Kandidatin. Bevor sie ihre Schritte nach Hause
lenkte, machte sie noch einen großen Spaziergang durch den
Stadtpark. Wie sollte sie es Joseph sagen? Und was eigentlich? Gut,
da war der Fakt des Beischlafs mit einem anderen, Alkohol spielte
dabei eine Rolle, aber konnte das die einzige Erklärung, geschweige
denn eine Entschuldigung sein. Liebt sie Joseph nicht mehr? Sie
konnte die Frage nicht eindeutig beantworten. Er war ihr
Traummann, er sah toll aus, war sportlich, zuverlässig, er tanzte gut,
war großzügig, manchmal konnte er sogar komisch sein, seine Musik
gefiel ihr, und neulich die Torte, die Blumen, die Kerzen. Aber dann
war da diese energiegeladene Spannung mit Andreas. Wie er sie
ansah, sie hatte den Körperkontakt mit ihm in jeder Situation als
prickelnd empfunden. Er war ein niedlicher Chaot, aber engagiert,
eigentlich kannte sie ihn noch gar nicht, aber da war ein starkes
Verlangen nach mehr. Wenn da aber so viel Wunsch nach einem
anderen ist, konnte sie dann bei Joseph bleiben? Joseph war kein Typ
für eine offene Beziehung, und sie eigentlich auch nicht, jedenfalls
nicht so rum. Da war mehr als nur der Drang nach Abwechslung im
Bett. Sie wollte eine Beziehung zu Andreas. Und sie war nicht der

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Typ für zwei Beziehungen. Eher noch könnte sie sich vorstellen,
Andreas mit Sophie zu teilen. Schließlich nimmt sie ihr nichts weg.
Wenn es um Sex geht, findet Sophie sicherlich leicht einen anderen
und vielleicht wäre das auch etwas für sie. Es geht mehr um das, was
Andreas sonst ausmacht. Vielleicht muss sie um ihn kämpfen,
schließlich drohte Sophie, ihr die Augen auszukratzen. Aber Joseph?
Er lag in der Badewanne. Auf der Spüle stand ein Glas, das den
typischen Rand von Aspirin aufwies. Sie kochte Kaffee. Er humpelte
nackt an Krücken an der offenen Küchentür vorbei und kam kurz
danach im Bademantel wieder.
„Setz dich, wir müssen miteinander reden.“ Marias Stimme klang
ernst und verunsichernd. „Möchtest du einen Kaffee?“ Er bejahte, sie
wärmte die Milch auf und goss den Becher voll. „Mir ist gestern
etwas passiert. Ich habe zuviel getrunken und bin mit Andreas ins
Bett gegangen.“ Es war raus.
Nach kurzer Stille sagte er halb jammernd halb schreiend: „Scheiße,
Scheiße, Scheiße! Wie konntest du mir das antun? War das, weil ich
nicht mitgekommen bin? Wolltest du dich rächen? Was hab ich dir
getan? – Was hat der Typ mit dir gemacht? Wie war der Fick? Kann
er es dir besser besorgen?“
Stille.
„Ok, kann passieren, kommt eben vor, wenn die Gelegenheit ist. War
doch nur Sex, - oder?“
Maria antwortete bestimmt: „Nein, ich habe mich verliebt.“
Die Kaffeetasse flog an ihrem Kopf vorbei und zerschellte an den
Kacheln hinter der Spüle, der Inhalt besprenkelte die Küche mit
braunen Flecken. Die Kaffeedusche kam überraschend, so aggressiv
und aufbrausend hatte sie Joseph noch nicht erlebt, zwar hatte sie
schon oft am Fußballplatz erlebt, dass er Stürmer, die ihn attackiert
hatten, mit unflätigen Worten bedachte, aber so ein Wutausbruch
überraschte sie.

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„Was hab ich falsch gemacht?“, schickte er fast weinend hinterher.
Maria hatte die Küche verlassen, die beschmutzte Kleidung
ausgezogen und duschte sich. Joseph zog sich an, humpelte die
Treppe runter und stieg ins Auto. Trotz der Schmerzen fuhr er los.
Maria machte sich Sorgen. Nach zehn Minuten rief Gisela an.
„Joseph ist bei uns, er hat mir erzählt, dass es mit Euch aus ist und
dass er die Tasse an die Wand geworfen hat, was ihm leid tut.
Können wir irgendwann miteinander reden, du weißt, ich mag dich
sehr, aber meinen Sohn liebe ich, ich bin seine Mutter, ich möchte
gern wissen, was war und was jetzt passiert?“
„Ist ok. Ich kann dir kurz sagen, dass ich mich verliebt habe und da
gibt es keinen Knopf zum Abschalten, und ich frage mich, wenn man
sich verliebt, obwohl man einen Partner hat, ist dann diese
Partnerschaft noch in Ordnung? Ich glaube, dass unsere Liebe in den
letzten Wochen einen großen Knacks bekommen hat. Mir ist die
Dynamik noch nicht ganz klar, aber irgendetwas ist da passiert. Ich
glaube, dass es besser ist, wenn wir uns trennen. Ich werde ein paar
Sachen einpacken und zu meinen Eltern fahren. Wenn Joseph nach
Hause kommt, werde ich nicht mehr hier sein.“ Maria beendete das
Gespräch. Sie telefonierte anschließend mit ihrer Mutter, die sofort
kommen wollte. Sie packte ihre Kleidung in zwei Reisetaschen.
Einige Tüten wurden ebenfalls vollgestopft. Sie hatte nicht viel, was
ihr persönlich gehörte. Eine Kiste mit ihren Lieblingsbüchern wurde
voll und eine mit Schuhen. Sie hatte die Reisetaschen schon runter
gebracht, als ihre Mutter auf den Hof gefahren kam. Als sie das
Grundstück verließen, drehte sie sich noch einmal um und sagte
„tschüss, Episode_1“

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Entscheidungen
Andreas hatte sich ein paar Flaschen Farbe im Baumarkt besorgt,
karminrot, dunkelgrün, ein kräftiges Lila, weiß und ein passendes
Blau. Tisch und Sofa standen mitten im Zimmer. Rechts und links
hatte er an den hinteren Säulenbalken, die das große Hochbett trugen,
Zeitungen mit Klebeband befestigt. Auch auf dem Boden lag das
Papier aus und bis zur Höhe der Sofalehne war es ebenfalls geklebt.
Der Nierentisch hatte einen ähnlichen Schutz erfahren. Das
Notebook befand sich im Hochbett, auf dem Tischchen standen
einige alte Marmeladengläser, die jetzt mit einer kleinen Menge der
Farben gefüllt waren. In jedem Glas steckte ein Borstenpinsel.
Andreas hatte die Fläche über dem Sofa bis zu den Pfosten mit einem
Rahmen von länglichen rechteckigen Flächen versehen. Sie waren
alle zweiundfünfzig Zentimeter lang und acht-Komma-sieben cm
breit. Am oberen und unteren Rand gab es jeweils vier dieser Balken,
rechts und links je zwei. Er hatte Pinsel mit genau einem Zentimeter
Breite gewählt. Andreas begann im zweiten Rechteck von rechts.
Den ersten Streifen ließ er frei. Dann fing er an nacheinander Striche
zu malen. Zuerst einen roten, dann einen weißen, danach einen
grünen, es folgten lila und rosa, der nächste wieder rosa und dann lila
und so weiter, der Vorgang wiederholte sich in jedem Balken
fünfmal. Er achtete streng auf die Symmetrie. Zum Schluss tupfte er
die freigelassenen Streifen noch einmal abwechselnd mit den fünf
Farben ab. Danach begann er in unregelmäßigen Abständen zehn cm
große, regelmäßige fünfzackige Sterne mit schmalem Kreppband
anzukleben, die er sich mit seinem Textverarbeitungsprogramm
erstellt hatte. Mit einer Farbrolle füllte er vorsichtig die Fläche mit
einem kräftigen Rot. Mit dem ersten Teil seiner Arbeit war er
zufrieden. Es war Montag, der 19. September, über das Wochenende
hatte sich das Wetter getrübt, aber die Stimmung nicht. Die Partei,

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