Volkstrauertag 2014 (PDF)




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Title: Microsoft Word - Volkstrauertag 2014
Author: Heveling

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Ansgar Heveling
Mitglied des Deutschen Bundestages

Gedenkrede
anlässlich des

Volkstrauertags 2013

 

Anrede,

über viele Jahrzehnte während der Teilung Berlins war die Kaiser-WilhelmGedächtniskirche DAS Wahrzeichen West-Berlins. Und auch heute noch hat jeder
Besucher des Ku’damms im westlichen Zentrum der Bundeshauptstadt die Kirche
zwangsläufig fest im Blick. 1895 wurde sie eingeweiht und am 23. November 1943,
also vor fast genau 70 Jahren, bei einem alliierten Bombenangriff zerstört.

Bis heute ist die Ruine ein Mahnmal für den Frieden - und der neben den Überresten
der kriegszerstörten neo-romanischen Kirche errichtete moderne evangelische
Kirchbau ist, das stelle ich bei jedem noch so kurzen Besuch fest, ein besonderer Ort
des Innehaltens und Gedenkens.

Seit nunmehr 30 Jahren beherbergt die Kirche ein besonderes Marienbild, das ich
heute in das Zentrum des hiesigen Gedenkens zum Volkstrauertag rücken möchte:
die so genannte „Muttergottes von Stalingrad“.

Ich glaube, fast jeder hier hat – möglicherweise in einer künstlerischen Abwandlung –
dieses Marienbild schon einmal irgendwo gesehen. So sieht es aus: [zeigen]

Als ich vor einigen Jahren das Bildnis zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hat es mich
direkt berührt und bis heute hat sich daran nichts geändert. Ich kann mir kaum eine
eindringlichere Mahnung für den Frieden vorstellen, als diese auf den ersten Blick
fast unscheinbare Kohlezeichnung.

Und bis heute frage ich mich: Wie kann inmitten von Tod und Leid ein solches Bild
entstehen, das wie kaum ein anderes Liebe, Geborgenheit und Nähe zeigt? Wie
kann dort, wo ALLES das Gegenteil von Frieden, Menschlichkeit und Leben ist, dort,
wo es nur um Tod, Hass und Unmenschlichkeit eine Darstellung möglich sein, die in
unfassbarer Weise Licht, Leben und Liebe ausstrahlt?

Was ist die Geschichte dieser besonderen Darstellung?

 

Gemalt hat das Marienbildnis zu Weihnachten 1942 der evangelische Pastor und
Lazarettarzt Dr. Kurt Reuber. Es entstand in einem Unterstand im Kessel von
Stalingrad und wurde mit Holzkohle auf die Rückseite einer sowjetischen Landkarte
gemalt.

Mit einer der letzten Maschinen, einer Junkers JU 52, die den Kessel von Stalingrad
mit verwundeten Soldaten an Bord verlassen konnte, gelangte das Bild in die
Heimat. Ein schwer verwundeter Offizier, der als einer der letzten aus dem Kessel
ausgeflogen wurde, brachte das Bildnis zur Familie Kurt Reubers nach Eschwege.

Der Pastor, Arzt und Maler Reuber selbst sollte indessen seine Heimat nicht
wiedersehen. Er starb 1944 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft an Flecktyphus
und gehört damit zu den rund 105.000 deutschen Soldaten, die den Kessel von
Stalingrad vor nunmehr 70 Jahren zwar überlebten, aber in der sowjetischen
Kriegsgefangenschaft ihr Leben lassen sollten. Nur etwa 5.000 von 110.000
gefangenen deutschen Soldaten kehrten aus der Gefangenschaft zurück.

Kurt Reuber gehörte nicht dazu. Und dabei wäre er vielleicht fast dem Schicksal
entkommen. Nur zwei Tage, bevor sich der tödliche Ring um Stalingrad schloss, war
er aus dem Heimaturlaub an die Front zurückgekehrt und folgte im Kessel von
Stalingrad bis zuletzt seiner doppelten Berufung: als Arzt und als Seelsorger.

Nach der Kapitulation Stalingrads ging er in sowjetische Gefangenschaft und
verstarb dort am 20. Januar 1944 im Alter von nur 37 Jahren.

Die weitere Bilanz dieser Schlacht, die – in diesem Jahr vor 70 Jahren – den
endgültigen Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges darstellen sollte: 60.000 deutsche
Soldaten starben im Kessel. Etwa 25.000 Verwundete hatten Glück und konnten
noch ausgeflogen werden. Diesen Zahlen steht auf sowjetischer Seite die scheinbar
unglaubliche Zahl von rund einer Million Opfern gegenüber.

Inmitten dieser Orgie des Todes: das Weihnachtsfest 1942. Und dort, an diesem
eisig kalten und toten Ort, dem zerschossenen und zerstörten Stalingrad, dort, wo

 

das Leben keinen Wert mehr hat, dort kommt Kurt Reuber auf den Gedanken dieses
Marienbild zu malen.

Er schreibt dazu an seine Frau zu Weihnachten 1942 in die Heimat:

„Die Festwoche ist nun zu Ende gegangen mit so vielem... mit Gedanken,
kriegerischen Ereignissen, mit Harren und Warten, in gefasster Geduld und
Zuversicht. Wie waren die Tage erfüllt mit Waffenlärm und vieler ärztlicher Arbeit und trotz allem auch mit Vorbereitung echter Freude für meine Kameraden.

Dann habe ich für den Generals-, die sechs Mannschafts- und die beiden
Offiziersbunker gemalt - ich habe lange bedacht, was ich malen sollte - und dabei
herausgekommen ist eine ‚Madonna‘ oder Mutter mit Kind.

Ach, könnte ich sie so gestalten, wie die Intuition es möchte! Meine Lehmhöhle
verwandelte sich in ein Atelier. Dieser einzige Raum, kein nötiger Abstand vom Bild
möglich! Dazu musste ich auf mein Bretterlager oder auf den Schemel steigen und
von oben auf das Bild schauen. Dauerndes Anstoßen, Hinfallen, Verschwinden der
Stifte in den Lehmspalten. Für die große Madonnenzeichnung keine rechte
Unterlage. Nur ein schräggestellter, selbstgezimmerter Tisch, um den man sich
herumquetschen musste, mangelhaftes Material, als Papier eine russische
Landkarte.

Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch
umschlossen. ‚Geborgenheit‘ und ‚Umschließung‘ von Mutter und Kind. Mir kamen
die johanneischen Worte in den Sinn: Licht, Leben, Liebe.

Was soll ich dazu noch sagen?

Wenn man unsere Lage bedenkt - in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen - und
unsere Sehnsucht nach Licht, Leben und Liebe, die so unendlich groß ist, in jedem
von uns…

 

Als sich nach altem Brauch die Weihnachtstür - die Lattentür unseres Bunkers öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und
ergriffen schweigend vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem in die
Lehmwand eingerammten Holzscheit ein Licht brannte. Die ganze Feier stand unter
der Wirkung des Bildes und gedankenvoll lasen sie die Worte: Licht, Leben, Liebe.

Heute Morgen kam der Regimentsarzt zu mir und dankte mir für diese
Weihnachtsfreude. Noch spät in der Nacht, als die andern schliefen, hätte er mit
einigen Kameraden immer wieder von seinem Lager aus das Bild im Kerzenschein
ansehen müssen. Ob Kommandeur oder Landser, die Madonna war immer wieder
Gegenstand innerer Betrachtung.“

Was soll man dazu noch sagen?

Ob Weihnachten 1942, vor etwas mehr als 70 Jahren, auch ein Soldat aus Jüchen
dabei gewesen sein mag, als das Bild der Gottesmutter im Kerzenschein von
Stalingrad leuchtete? Ob es auch einem der jungen Männer, die hier als Gefallene
des letzten Krieges ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, Trost und Hoffnung
geschenkt haben mag, mitten in der Hölle von Stalingrad, umgeben von Kälte, Tod
und Hass?

Ein kleines unscheinbares Bild, auf das damals alle gebannt schauten – voller
Sehnsucht, Angst und Leid. Ein kleines unscheinbares Bild, auf das auch heute alle
gebannt schauen – als Mahnung für Frieden und Gerechtigkeit.

Heute hängt das Bild an einem friedlichen Ort, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Und unser Weg nach dem Betrachten der Muttergottes führt nicht in die Hölle einer
Kesselschlacht, in Tod, Hass und Kälte zurück. Dafür sollten wir dankbar sein.

„Der Tod schlägt Schluchten des Schweigens, wo sonst eine Antwort war und nun
kein Echo mehr ist; er schafft schmerzliche Leere an Tisch und Bett, wo keine
fürsorgliche, wärmende Hand mehr entgegenkommt.", so hat es der evangelische
Bischof Demke zum Volkstrauertag 1991 formuliert.

 

Wir haben diese Schluchten überwunden und leben seit bald 70 Jahren in Frieden
und Freiheit und in Freundschaft mit unseren Nachbarn ist West und Ost. Die
Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die Opfer von Krieg und Gewalt, die
jungen Männer auch hier aus Jüchen mahnen uns, dass dies keine
Selbstverständlichkeit ist. Wir sollten ihre Mahnung annehmen.

„Geschichte verblasst schnell, wenn sie nicht Teil des eigenen Erlebens war.“, so hat
es einmal Altbundespräsident Roman Herzog formuliert. Und so ist der
Volkstrauertag ein Tag wider das Verblassen der Geschichte.

Gedenktage können Geschehenes nicht rückgängig machen. Aber sie beeinflussen
unser Verständnis von Vergangenheit und damit unseren Blick auf die Gegenwart.

Die Erinnerung an die Unmenschlichkeit des Krieges ist Aufforderung an uns und
künftige Generationen. Wir dürfen nicht erstarren vor der breiten Blutspur, die Krieg
und Gewalt, Terror und ideologischer Wahn durch das 20. Jahrhundert gezogen
haben. Der Tod so vieler wäre gänzlich vergebens, wenn wir ihn nur ohnmächtig zur
Kenntnis nähmen. Die Toten, derer wir heute gedenken, müssen uns vielmehr
Mahnung und Verpflichtung sein, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, sondern
uns zu erinnern und zu handeln.

Mahnung heißt Wachsamkeit. Wachsamkeit gegenüber allem, was Demokratie,
Freiheit, Rechtsstaat und Frieden gefährdet. Gerade an Tagen wie heute müssen wir
uns immer wieder bewusst machen: Ein Leben in Freiheit, Frieden und Demokratie
ist kein Geschenk, das von selbst kommt. Ganz im Gegenteil: Sie müssen immer
wieder aufs Neue behauptet werden.

1942 haben sich junge Männer um das Bild der Muttergottes aus Stalingrad geschart
und in ihren Blick auf das Bild alle Sehnsucht auf Licht, Leben und Liebe, auf
Geborgenheit und Frieden gelegt. Für viele in Stalingrad und anderswo sollte sich die
Sehnsucht nicht erfüllen. Bis heute aber spiegelt die Muttergottes von Stalingrad alle
diese Sehnsüchte wider. Damit auch wir nicht vergessen.

Vielen Dank!






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