Die Angst vor den eigenen Lippen (PDF)




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Die Angst vor den eigenen Lippen
Die „Angst vor den eigenen Lippen“ beschreibt ein Phänomen, welches weiten Teilen der
Gesellschaft nur allzu gut bekannt ist und die Bevölkerung meist proportional dazu selbst
betrifft.
Ein Thema, das vor Aktualität schreit, erhebt es sich doch wie ein Schleier über die Gemüter
der Menschen und stellt mit der Verlässlichkeit eines römischen Wachpostens sicher, dass
nicht der leiseste unbequeme Ton aus ihren Mündern tritt und herrschende Dogmen nicht
mehr infrage gestellt werden. Und wer nun etwa an die staatliche Zensur der Meinungs- und
Redefreiheit denkt, könnte falscher damit nicht liegen, womit wir uns vorliegend
auseinandersetzen möchten. Denn die „Angst vor den eigenen Lippen“ beschränkt sich weder
auf die Angst vor staatlichen, noch vor gesellschaftlichen Sanktionen physischer
Zwangsgewalt, sondern umfasst eine moderne Form von individuellen sowie kollektiven
Selbstzensierungsprozessen, die dem Individuum zum Schutze vor gesellschaftlicher
Diffamierung und Isolation dienen.
Das „Argument gegen den Menschen“ als Ahndung eines Verstoßes gegen die Regeln des
politischen Mainstream: Dogmen, die das gesellschaftliche Meinungsbild zu beherrschen
vorgeben und mit kompromissloser Radikalität und Härte von einem meist kleinen, aber
einflussreichen Kreis verteidigt werden. Jene Positionen erfahren ihre Überlegenheit dabei
schlichtweg dadurch, dass sie nicht mehr angegriffen werden sollen – zumindest nicht, ohne
dabei den Mut aufbringen zu müssen mit seiner eigenen gesellschaftlichen Existenz zu
spielen.
1. Das „argumentum ad hominem“
Aus dem Lateinischen wird die Argumentationsform des „argumentum ad hominem“ (a.a.h.)
als „Argument zum Menschen“ übersetzt. Besser verständlich wird es jedoch, wenn man es
als „Argument gegen den Menschen“ versteht, also eine Argumentationsstrategie, welche
eben gerade nicht auf die Positionen seines Gegenspielers abzielt, sondern dessen
Zielrichtung die andere Person selbst ist.
Aktuelle Beispiele hierfür sind augenscheinlich und finden sich zahlreich. So werden
Menschen, die sich gegen eine bestimmte Politik der Europäischen Union stellen und
berechtigte Kritik äußern,1 zusammenhangslos in einen Kontext mit Nationalisten,
Europafeinden, Ewiggestrigen und sogar Kriegstreibern gestellt. In vielen Nationen
1

Wann erfährt Kritik in einer Demokratie eigentlich keine Existenzberechtigung?

1

brandmarkt man Menschen, die gegen ihren Staat aufbegehren als unpatriotisch, undankbar
bis hin als Volksverräter. Gegner der „ökologischen Energiewende“ sind standardmäßig
Vertreter der Interessen von Großkonzernen aus Atom- und Kohlekraft und Zerstörer von
Mutter Erde. Andersherum werden Atomkraftgegner schnell in die Ecke irrationaler
Wirrköpfe gestellt. Wirtschaftsliberale sind gleich Lobbyisten und Millionäre. Linke
Positionen werden schnell in einen Kontext mit den Gräueltaten stalinistischer Herrschaft des
Ostblocks gesetzt. Und Menschen, die auch nur das kleinste Unbehagen gegen fremde
Kulturen und Mentalitäten durchblicken lassen, werden dieser Tage automatisch unter die
Schemata von Rechten subsumiert und sind mit einem male Nationalisten, Intolerante,
Weltverschlossene bis hin zu Homogenisten und Mörder, obwohl sie nur ihr ehrliches
Befinden äußern wollten. Der Kreativität des Denunziantentums sind dabei schlichtweg keine
Grenzen gesetzt.
Das Muster des argumentum ad hominem verläuft dabei stets ähnlich und steht jeglicher
politischen Strömung offen. Es ist themen- oder personenbezogen und zunächst wertneutral,
bis jene Themen oder Personen mit Etiketten versehen werden, zu denen negative
Konnotationen bestehen. Zu deren Negativbewertung wiederum muss ein weitestmöglicher
Konsens in der Medien- und Politiklandschaft bestehen.2
Aus der Empirie folgend gehen in Demokratien Konsense in der Politiklandschaft für
gewöhnlich mit Konsensen in der Medienlandschaft einher. Dies hat vor allem zwei Gründe,
denn einerseits wird noch immer fälschlicherweise angenommen, dass ein Konsens in der
Medienlandschaft einen Konsens in der Wählerschaft repräsentiert und andererseits wird den
Medien noch immer die Deutungshoheit über das Tagesgeschehen zugesprochen, welches
ihnen wiederum einen erheblichen Einfluss auf die Politik verschafft. In der Bevölkerung
selbst schadet ein solcher wirklicher Konsens zwar nicht, jedoch ist er nicht zwingend von
Nöten. Denn das Verfahren von Medien und Politik kann auch in Demokratien als
weitestgehend autark vom eigentlichen Gesellschaftswillen bewertet werden.
Das argumentum ad hominem kann dabei in zwei unterschiedlichen Spielweisen angewandt
2

Je nach politischem System. In einer westlichen Demokratie, in der Meinungs- und Pressefreiheit herrschen,
folgt, wie wir sogleich sehen werden der Konsens der Politik für gewöhnlich dem Konsens der Medien.
In autokratischen Systemen, in denen Medien und Presse zu Teilen oder gänzlich unter Kontrolle des Staates
stehen, gilt diese Regel dabei reversiv, also folgt umgekehrt der Medienkonsens dem Politikkonsens (dem
Standpunkt des Autokraten).

2

werden. Entweder brandmarkt man eine Meinung allgemein mit einem Stigma mit
dazugehörigen Negativkonnotationen, das sich dann automatisch auf den Protagonisten dieser
Position überträgt (1. Form des a.a.h.).
Oder man brandmarkt andersherum den Protagonisten selbst, welches sich dann entweder auf
dessen Position überträgt bzw. diese in der Diskussion irrelevant werden lässt (2. Form des
a.a.h.).
Beiden Formen innewohnend ist dabei das Ziel, bestimmte Positionen zu unterminieren, ohne
sich direkt mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Eine Sachdiskussion zum Thema soll
somit entweder indem man sie im Keime erstickt bzw. gar nicht erst entstehen lässt,
vermieden werden.
Das argumentum ad hominem bildet somit ein Gegenstück zum argumentum a priori, also
jenen Argumenten, die wir einer sachlichen Diskussion als inhärent verstehen, da sie sich der
Disziplin der Logik stellen und einen Sachbezug zum Thema aufweisen.
Zusammengefasst bedingt das argumentum ad hominem für seine Wirksamkeit also:


Thema
◦ → Protagonisten...
◦ → (mit) Position zu diesem Thema
▪ → öffentliches In-Verbindung-Bringen des Protagonisten dieser Position mit
einem Stigma, dessen Konnotationen


sehr negativ besetzt sind



(und) zu deren Negativbewertung ein weitestmöglicher Konsens in der
Medienland- bzw. Politiklandschaft bzw. Bevölkerung besteht (eines von
beiden je nach politischem System)

Der Architekt, der keine anderen Architekten mochte:
Nehmen wir so beispielsweise an, dass es in einer Stadt C (eine Demokratie) genau zwei
Architekten (#1; #2) gibt, die sämtliche architekturbezogenen Aufträge auf sich vereinen.
Die Errichtung eines pompösen Gebäudes ist für ein Grundstück am den Rande des
Marktplatzes im Gespräch und die Stadt steht nunmehr vor der Entscheidung, es errichten zu
lassen oder nicht. Es hat vermehrt Bedenken gegeben, ob das Gebäude einerseits finanzierbar
ist und andererseits am Ende überhaupt den Gesetzen der Statik entsprechen kann, da die
Möglichkeiten in Sachen Konstruktion derzeit stark eingeschränkt sind.

3

Architekt1, der große und lukrative Hoffnungen darin hegt, die Bauleitplanung am Ende
übernehmen zu können, spricht sich natürlich für den Bau aus, während Architekt2 erhebliche
Bedenken hat und dagegen ist. Vor allem sieht dieser den Bau als massive Gefahrenquelle, da
er am Ende jederzeit zusammenbrechen könnte und bringt dabei natürlich die besseren
Argumente mit sich. Denn nebenher, dass der Bau nicht den Gesetzen der Statik entsprechen
wird, wird auch die Fehlkonstruktion nicht ohne zusätzliche Steuern möglich sein, zudem
füge sich der Bau auch nicht in das bestehende Stadtbild ein etc. etc. Die Liste an Nachteilen
für die Stadt ist lang.
Architekt1, der nun um sein vermeintliches Geschäft besorgt ist, will den Bau, ist aber auf der
rationalen Argumentationsebene (argumentum a priori) dem um Vernunft bemühten
Architekten2 maßlos unterlegen. Irgendwie muss es ihm nun aber gelingen, sein Begehren auf
andere Art zu erlangen.
Selbstverständlich ist er ein gewiefter Mann und so kommt ihm auch schnell eine Idee.
Natürlich muss das argumentum ad hominem nun für seine kruden Absichten herhalten.
Einerseits muss er so ein Stigma finden, das zumindest bei den Medien (Dorfschreier,
Verleger etc.) konsensual verrufen ist, besser noch gleichzeitig bei den politischen
Entscheidungsträgern und wenn möglich zudem in der Gesellschaft selbst (Schritt1).
Dann muss er diese Eigenschaft glaubwürdig auf den kritischen Architekten2 übertragen - es
zählt dabei die Glaubwürdigkeit, nicht aber unbedingt die Wahrheit (Schritt 2).
Und wenn er nun davon ausgeht, dass die Politik nicht schon von allein auf sein eigentliches
Begehren kommt - nämlich die Durchsetzung des Baus - muss er diese Denunzierung noch
mit seiner Forderung verbinden (möglicher Schritt 3).
Er beginnt nun seinen Plan und stößt auf das im Dorf besonders verrufene Thema des
Kannibalismus. Er wendet sich jetzt mit dem Argument an die Presse, dass die Familie, aus
der Architekt2 stammt, schon seit vielen Generationen dem Kannibalismus verfallen wäre und
Architekt2 so mit hoher Wahrscheinlichkeit auch selbst ein Kannibale sei (a.a.h. +
Scheinlogik). Dies verbindet er dann mit seiner Forderung, dass der Bau stattfinden solle, da
man bei einer solchen Bedeutung für die Stadt doch nicht auf einen Kannibalen hören könnte.
Die Presse sieht sich nun auf sicherem Terrain, bei politischem wie sogar gesellschaftlichem
Konsens, ein großes Thema daraus zu machen und stürzt sich auf den Architekten2, den
danach niemand mehr im Dorf angucken will. Dem Architekten1 wird sein Begehren so
schlussendlich von den Stadträten bewilligt. Die besseren Argumente des Architekt2 für den
Nichtbau sind mit einem male irrelevant (2. Form des a.a.h.).
Ob er wirklich ein Kannibale ist, ist nicht klar, aber für das Verständnis auch nicht wichtig.
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Denn entscheidend ist, dass ein der Debatte sachfremder Bezug zur Person des Architekten2
hergestellt wurde, um dessen eigentliche Argumente zu untergraben. Denn es ging
ausschließlich darum, ob die Stadt den Monumentalbau errichten sollte oder nicht und nicht
um dessen Vorlieben.
So wäre das argumentum ad hominem auch einschlägig, wenn Architekt2 am Ende wirklich
ein Kannibale gewesen wäre, denn wäre er dem Kannibalismus letztendlich in der Stadt C
verfallen, hätte es präventive, wie repressive Gesetze hiergegen gegeben, die diesem gerecht
geworden wären, die aber nichts mit seinem eigentlichen, für die Stadt selbst vorteilhaften
Anliegen zu tun gehabt hätten. Entscheidend für das a.a.h. ist also seine Sachfremdheit in
einer Debatte.
2. Die politische Korrektheit
Etablierte sich die politische Korrektheit einst aus den edlen Motiven heraus, einen
zivilisierteren und respektvolleren Umgang miteinander zu pflegen, der einem modernen
Menschenbild gerecht wird, weitet selbige ihre Schutzbereich heute unermüdlich auf Bereiche
aus, die mit ihrer Teleologie, also mit ihren eigentlichen Grundgedanken, rein gar nichts mehr
zu tun haben.
Mehr und mehr wird die politische Korrektheit dieser Tage nur noch als Blaupause
missbraucht, um bestimmte, von einer Lobby als verwerflich bewerteten Positionen, einem
automatisierten Prozess zu unterstellen. Einem Prozess, der schließlich dazu führt, dass
Vertreter jener missbilligten Positionen einer Maschinerie unterfallen, die jene negativ
konnotierten Stigma des a.a.h. automatisch auf sie projiziert und so dessen Konsequenzen
unterwirft (1. Form des a.a.h.). Man kann sich die politische Korrektheit dieser Tage auch als
eine Art Computer vorstellen, der die ihm zugewiesenen, missbilligten Meinungsäußerungen
detektiert und deren Urheber zuverlässig und umgehend mit dem passenden negativen Etikett
bedruckt.
Jene Lobby weiß es dabei oft geschickt anzustellen, für angestrebte Ziele Mittel zu
verwenden, die mit der politischen Korrektheit kompatibel sind und die Erreichung der Ziele
so quasi garantieren, da das a.a.h. sie vor Angriffen schützt.
Das Geniale daran ist nämlich, dass es dem „Instrument“ der politischen Korrektheit gelingt,
das argumentum ad hominem anstatt nur individuell-konkret auf den Einzelfall, nun generellabstrakt auf einen offenen Personenkreis projizieren zu können. Das a.a.h. wirkt so also
allgemeingültig für jeglichen Urheber eines Sachverhaltes, der sich irgendwie unter eine
Inkompatibilität zur politischen Korrektheit subsumieren lässt. Hierbei ist selbstverständlich
5

auch ihr Katalog missbilligter Sachverhalte fast beliebig erweiterbar.
Es ist wie, als ersetzte man einen Richter plötzlich durch Gott. Eine schlicht geniale
Substitution. Eine gerade zu revolutionäre Innovation. Denn Gesetze müssen nun nicht mehr
mühselig einzeln von Autoritäten überprüft und durchgesetzt werden, da sich die Sachverhalte
nun von ganz allein unter die Gesetze subsumieren und das sogar unter der Mithilfe der
Angeklagten selbst. Hinzukommend können die Regularien durch Interpretation expandieren.
Auch die Regularien von heiligen Schriften können aufgrund ihrer Normativität durch
Interpretation fast beliebig eingeschränkt oder erweitert werden und sind somit fast
willkürlich manipulierbar.
Der einst so edle Gedanken der politischen Korrektheit ist so zu einem Dogma geworden. Aus
einem Lichte des Respekts nun ein heißes Eisen, das nicht angefasst werden soll. Aus einem
Appell an die Manieren und die Menschlichkeit, ein Damokleschwert, das heute
seinesgleichen sucht.
3. Die Symbiose und ihre Folgen
Die Konsequenzen sind folgerichtig. Ein Mensch, auf dem ein Stigma lastet, ist für
gewöhnlich weiteren hierauf aufbauenden Diffamierungen ausgesetzt. Diffamierungen, die
seine Reputation sabotieren und ihm im schlimmsten Falle in das gesellschaftliche Abseits
befördern. Denn die Person ist nun gebrandmarkt und ist es dem Gehorsam der Gesellschaft
geschuldet oder aus deren Angst heraus, mit der Person in eine Ecke gestellt zu werden, die
Menschen werden beginnen, diese Person zu meiden.
Ein nun immer stärker aufkeimendes Denunziantentum befeuert diesen Prozess. Eine
Nebenwirkung des argumentum ad hominem, die dem von ihm profitierenden Personenkreis
aber höchst willkommen ist, erweitert es dessen Wirkungskreis doch ins Unermessliche.
Viele Mitmenschen entwickeln nun allein aus der Befürchtung heraus, in die Nähe eines
Stigmas gestellt zu werden, antagonistisch-präventive Verhaltensmuster und werden so zu den
Denunzianten vorderster Front. Denn wer denunziert, der klagt an und wer etwas anklagt,
missbilligt etwas moralisch, zumindest aus einem objektiven Blickwinkel und kann so den
Verdacht von sich lenken, selbst ein Täter seiner eigenen Anklage zu sein.
Hinzukommend bestärken Profilierungssucht und Aufstiegsdrang die
Denunziantengesellschaft, deren Früchte sich vor allem denen erschließen, die mit der Welle
schwimmen und den medial-politischen Konsens gegen seine „Widersacher und Feinde“
verteidigen.
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Die Sprache und der Umgang miteinander werden so zwangsweise rauer. Es entsteht ein
Klima des Misstrauens in der Bevölkerung und die Menschen trauen sich allmählich nicht
mehr über den Weg.
Der sich ständig ändernde und ungewisse Schutzbereich des für ein a.a.h. einschlägigen
Meinungsspektrums, erfordert zusätzliche Prognosen der Menschen, ob das Intendierte schon
unter das missbilligte Meinungsspektrum subsumiert werden kann oder nicht.
Sind sich Menschen nicht mehr sicher, welche Konsequenzen eine Meinungsäußerung für sie
haben könnte, wird die große Mehrheit diese Meinung nicht mehr äußern. Die Kosten werden
für sie nun einfach hoch, als es der Nutzen, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, Wert
erscheinen lässt.
Der Verlockung, seine Lippen sprechen zu lassen, stehen nun auf breiter Front die Schwerter
von Diffamierung und Isolation gegenüber, die häufig zu gesellschaftlichem Abstieg führen.
Eine Abwägung also, der die freie Rede in den meisten Fällen unterliegen wird und das auch
aus nachvollziehbaren Gründen.
Zur Ungewissheit über den Schutzbereich des a.a.h. tritt zudem eine Ungewissheit über den
Kreis der Denunzianten hinzu, die sich im Grunde genommen überall befinden könnten.
Selbst in Bekannten-, Liebes- und Freundeskreisen traut man sich jetzt nicht mehr über den
Weg. Bei Äußerungen drohen langjährige Beziehungen zu zerbrechen, denn im anderen wird
jetzt nicht mehr der frühere Mensch gesehen, sondern nur noch die Projektionen der
Negativkonnotationen seiner Brandmarkung durch die Öffentlichkeit.
Die Menschen haben nun das Endstadium dieses Gesellschaftsprozesses erreicht, sie haben
jetzt „Angst vor den eigenen Lippen“. Die eigene Stimme im Kopf ist nun der größte
Widersacher seiner selbst. Sie muss unterdrückt werden, denn die Öffnung seines
Gedankenzaunes, könnte den persönlichen Untergang für sich und seine Familie bedeuten. Es
wird höchstens noch leise geflüstert und das mit der großen Hoffnung, sich nicht in der Nähe
eines Denunzianten aufzuhalten. Erkennen Sie sich wieder?
Wir sind angekommen in der modernen Maschinerie der Meinungsharmonisierung. Denn
auch deren Protagonisten haben über die Jahrzehnte gelernt, dass es sehr viel schlauer ist,
Menschen für ihre Meinungen gesellschaftlich zu sabotieren, als sie zu ermorden, zu foltern
oder ins Gefängnis zu stecken. Warum? Ein Toter kann zum Märtyrer werden, ebenso wie ein
Gefangener, der obendrein sogar wieder freikommen und womöglich zurückschlagen kann.
Eine physisch gepeinigte Person, büßt in ihrer Physis ein, aber nicht in ihren Standpunkten.
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Im Gegenteil, die Brutalität seines Gegners scheint wie ein Offenbarungseid seiner
Unterlegenheit.
Sabotiert man hingegen ausschließlich den Ruf dieser Person, verringert man diese Risiken
um ein vielfaches und bewahrt obendrein sogar noch den Schein einer fortschrittlichen
Gesellschaft, während andere Länder mit ihren überfüllten Kerkern und Friedhöfen wie
Barbaren dastehen und obendrein noch Sanktionen der Weltgemeinschaft hinnehmen müssen.
Die soziale Bestrafung3 wägt sich dieser Tage hinter dem Schreckgespenst der physischen
Zwangsgewalt in schierer Anonymität, während sie ihre Fäden viel weiter zu ziehen vermag,
als letztere je dazu fähig wäre.
Das argumentum ad hominem erhebt sich so zu einer der bisweilen nachhaltigsten und
risikoärmsten Formen der Meinungsharmonisierung modernen Machtstrebens. Das haben
auch die einflussreichsten Kräfte längst begriffen und für sich zu nutzen gewusst, denn es
erlaubt ihnen ein Agieren aus dem Hintergrund heraus, das bisher noch nicht enttarnt wurde.
4. Mögliche bis wahrscheinliche Szenarien:
Widmen wir uns nun drei möglichen Szenarien, welch Folgen ein solches gesellschaftliches
Schweigegelübde haben könnte bzw. haben wird.
Szenario 1: Unterdrückte Positionen gehen in den Untergrund
Viele, die gerne etwas sagen möchten, es aber nicht mehr können, flüchten sich nun in das
Verborgene, in den Untergrund, in die Anonymität, deren Motive weder für die Gesellschaft
erkenntlich, noch abschätzbar sind. Die Kontaktaufnahme zu diesen Personen ist nun
dermaßen erschwert, dass einer offenen Diskussion gänzlich der Boden entzogen ist.
Ist es die größte Stärke einer Demokratie, dass in ihr Meinungsfreiheit herrschen muss, um sie
zu garantieren und Angelegenheiten so aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet
und reflektiert werden können, ist dies in dieser Gesellschaft nur noch ein Relikt der
Vergangenheit. Die Protagonisten beider Seiten - im Mainstream wie im Untergrund - finden
sich nun in Blasen wieder. Blasen, in denen es kein Kontra mehr gibt. Schwache bis
schwachsinnige Positionen keiner Selektion mehr unterliegen. Blasen, in denen nur noch die
Positionen existieren, aber keine Argumente mehr, weder um sie zu stützen, noch um sie zu
widerlegen.
Die Gesellschaft befindet sich in einer Situation der intellektuellen Gefechtslosigkeit. Denn
3

Sieht man den ökonomischen Abstieg einer Person als notwendige Konsequenz gesellschaftlicher Isolation,
ist diese in ihrer Ausschließlichkeit auch fraglich.

8

wofür sollte man auch Argumente brauchen, wenn Recht bekommen keine Leistung mehr ist,
sondern Naturzustand. Falsche Überzeugungen bleiben so auf allen Seiten unwiderlegt.
Ein besinnliches Abwägen, ein Aufeinander-Zugehen, ein Treffen in der Mitte, welches die
großen Stärken der offenen und rationalen Diskussionskultur sind, gibt es nun nicht mehr.
Schwarz-Weiß Denken bestimmt den Alltag, welches eine Vielzahl von Gefahren in sich birgt.
So ist es kein Wunder, dass gerade jene Entscheidungen, die die Zivilisation in ihr größtes
Verderben geführt haben, aus Elfenbeintürmen heraus getroffen wurden.
Im Untergrund wie im Mainstream haben sich zudem „Wahrheitssuchende“ formiert, deren
Bezeichnung in die Irre führt, haben sie ihre eigene Wahrheit doch schon unabweichlich für
sich proklamiert und hat eine wirkliche Suche nie stattgefunden. Beide sind radikal, da
unreflektiert.
Die Untergrundgruppe wächst, ihr wirkliches Ausmaß bleibt der Öffentlichkeit aber
verborgen. Sie bereitet sich nun auf eine Umwälzung der gesellschaftlichen Zustände vor, die
eine Rückkehr in die Öffentlichkeit mit einbezieht. Dieses mal ist die Gruppe aber deutlich
gestärkt und auf ein Gefecht eingestellt.
Proportional zu dieser Separierung und der isolierten mentalen Schaffenszeit, ist auch die
Lücke zwischen den Überzeugungen der Parteien auseinandergeklafft, welche sich nun auf
dem Niveau fanatischer Pseudoreligionen bewegen.
Es herrscht nun der Zustand der Weimarer Republik, Schwarz gegen Weiß. Es kommt
wahrscheinlich zu Übergriffen, Straßenschlachten eventuell zu einem Bürgerkrieg und am
Ende des Ganzen steht meist die Tyrannei.
Szenario 2: Unterdrückte Positionen bleiben in der Öffentlichkeit
Immer mehr Menschen, die viel zu verlieren haben – welches in der Regel das etablierte
Bildungsbürgertum sein wird – werden begründete Einwände nicht mehr vorbringen. Diese
Personen verschwinden nun mehr und mehr aus den öffentlichen Diskussionen, obwohl im
Stillen ein Groß der Gesellschaft weiß, dass etwas gewaltig schief läuft, es sich nur keiner zu
sagen traut.
Die Missstände sind offensichtlich. Immer mehr Menschen, die weniger zu verlieren haben
treten nun zutage. Ihnen ist eine Pönalisierung (Bestrafung) durch die Medienlandschaft in
Form von Diffamierung egal. Eine zu verlierende Stellung in der Gesellschaft haben sie oft
(noch) nicht. Im Gegenteil. Sie sehen nun die Möglichkeit, aus dem Mut zur Äußerung ihrer
Meinung, Kapital zu schlagen und politisch, wie gesellschaftlich aufzusteigen. Tendenziell
und folgerichtig wird sich ein Großteil von ihnen aus den ungebildeten Schichten
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