Leseprobe Unheimliche Leichtigkeit (PDF)




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Exklusive
LESEPROBE

Wenn MENSCHEN
ihre ANGST VERLIEREN ...
Sie sind jung, sie sind frech, sie verweigern sich
dem System und fordern den Staat heraus. Sie wollen sich nicht mehr anpassen. Sie wohnen gemeinsam
in Abrisshäusern, planen in langen Nächten am See
ihre nächsten Aktionen, drucken heimlich Flugblätter,
feiern in ihrer illegalen Nachtbar, bis der Morgen anbricht, und demonstrieren am Tag in der ersten Reihe. Sie werden verfolgt, aber mit jeder neuen Aktion
verlieren sie ihre Angst und die Diktatur an Kraft.
Deutschland erlebt von Leipzig aus zum ersten Mal in
der Geschichte eine gelungene Revolution.
Die wahre Geschichte einer ungewöhnlichen
Gruppe junger Leute, die einen Kampf führen, den
andere für aussichtslos halten.

© Armin Wiech / Archiv Bürgerbewegung Leipzig

Ende der achtziger Jahre finden in Leipzig junge Leute
zusammen, die es satt haben, sich ihr Leben von anderen vorschreiben zu lassen. Sie sind zwischen 17 und 25
Jahre alt und wollen, dass sich alles verändert. Sie leben
in besetzten Wohnungen, treffen sich in den Hinterhöfen der heruntergekommenen Stadtteile. Sie streiten
miteinander, verlieben sich und diskutieren. Aber am
wichtigsten sind ihnen provokative Aktionen, mit denen
sie die Gefühle der Menschen erreichen können. Sie
radikalisieren die Friedensgebete in der Nikolaikirche,
bis sie aus der Kirche fliegen und den Platz und die
Straßen davor erobern. Sie planen verwegene Aktionen und stellen auf abenteuerliche Weise verbotene
Flugblätter, Fotos und Filmaufnahmen her. Polizei und
Stasi sind ihnen dauernd auf den Fersen. Ein Leben zwischen Angst und Mut, Erfolgen und Niederlagen. Ohne
Handys und Internet sind sie Teil eines Netzwerks, das
größer ist als Leipzig – es reicht von Berlin bis nach
Prag, von Ost nach West. Sie bringen schließlich andere Menschen auf die Straße, selbst wenn ihre Transparente von der Staatsmacht heruntergerissen werden:
Für ein offenes Land mit freien Menschen.

Noch nie wurde die DDR-Opposition
so nah beschrieben, wie die jungen Leipziger
Rebellen in diesem Buch.
2

3

Fotos: © Frank Sellentin, Siegbert Schefke / Archiv Bürgerbewegung Leipzig

Über die
ENTSTEHUNG
des BUCHS
Im Sommer 1989 erhalte ich in meiner West-­
Berliner Fernsehredaktion auf geheimnisvollen
­Wegen eine Videokassette aus Leipzig zugespielt.
Darauf zu sehen sind ein paar junge Leute, die
im Hinterhof eines verfallenen Hauses zusammen­
gekommen sind und überraschend klar über das
Ende der DDR sprechen.
Sie sitzen zwischen Sonnenblumen und Müll­
tonnen und lassen sich von einer heimlich eingeschmuggelten Videokamera für das West-Fernsehen
filmen. Sie reden offen über ihre Aktionen, über
eine Umweltdemo entlang der Pleiße, eine Protestaktion gegen die Pressezensur, ein verbotenes
­Straßenmusikfestival. Sie sehen keine Zukunft mehr
4

für den von greisen Männern geführten Staat und
finden, dass die Zeit reif ist zu handeln. 40 Jahre
Stalinismus sind genug, sagt einer von ihnen.
Und dann führen sie die Besucher mit der
Kamera, zwei junge Ost-Berliner Oppositionelle,
­
durch ihre Stadt. Leipzig ist ein Ort voller Ruinen,
ganze Straßenzüge sind zusammengebrochen. Eine
Frau ruft aus dem Fenster: »Ihr müsst das mal
­aufnehmen, wie wir hier leben!«
Aus den Aufnahmen wird ein kurzer Film, den
das West-Fernsehen ausstrahlt. Die unerschrockenen Stimmen aus dem Hinterhof der Mariannenstraße 46 erreichen Millionen Zuschauer.
Für dieses Buch habe ich die Rebellen von Leipzig
wiedergetroffen. Sie öffneten mir ihre privaten
­Archive mit Fotos, Briefen, Tonbändern und Tage­
büchern. Dabei erhielt ich viele überraschende
­Einblicke. Sie waren Teil eines wesentlich größeren
Netzwerkes in Leipzig, sehr unterschiedliche Männer

steckend mit ihrem unbeirrbaren Willen, etwas zu
erreichen.
Es ist die wahre Geschichte einer Revolution, die
sich trotz aller Bedrohungen und Gefahren mit einer
seltsamen Leichtigkeit vollzog.

und Frauen, selten älter als 25 Jahre, die mit ihrer
Schwarmintelligenz den Staat herausforderten und
schließlich gemeinsam mit anderen bezwangen.
Es ist ein Buch voller verblüffender Details. Die
jungen Menschen werden darin wieder lebendig –
in ihrem Mut und Zusammenhalt, ihrer Freundschaft und Spontaneität. Sie wirken noch heute an-

Peter Wensierski

»

Ein inspirierendes Buch über die Kraft jedes Einzelnen.
Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit, Menschenwürde.
Selten kann man so lebendig erleben,
was Grundrechte für das eigene Leben wirklich bedeuten.
Die »Leichtigkeit der Revolution« ist so aktuell wie nie.

«

ROLAND JAHN, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen
5

Orte in LEIPZIG,
die in diesem Buch
eine Rolle spielen
4

3

1 Juliusstraße 5 – Lukasgemeinde,
Pfarrhaus Wonneberger
14

2 Dresdener Straße 59 – Markusgemeinde,
Pfarrhaus Turek (ehem. Straße der Befreiung)

16
15

17

3 Tröndlinring 7 – Reformierte Kirche, Pfarrer Sievers

7

9

6

4 Mariannenstraße 46, Meißner Straße 25 und 31 –
besetzte Wohnungen

1

5 Zweinaundorfer Straße 20a – illegales Nachtcafé,
Michas Wohnung, erstes Büro des Neuen Forums

2

10

6 Nikolaikirche und Nikolaikirchhof –
Ort der Friedensgebete
7 Marktplatz – Ort des Straßenmusikfests
und der Demonstrationen vom 15. Januar und
7. Mai 1989

12

5

8 Beethoven-/Dimitroffstraße –
Stasi-Untersuchungs­haftanstalt, Volkspolizei,
Gerichtskomplex
9 Dittrichring 24 – »Runde Ecke«,
Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung

8

10 Burgstraße 1 – Stadtjugendpfarramt,
Treffpunkt der AG Umweltschutz

11
13

11 Mozartstraße 19 – Theologisches Seminar
12 Täubchenweg 14 – Albert-Schweitzer-Haus
13 Schletterstraße – Jochens Wohnung
14 Café Wilhelmshöhe
15 Milchbar Pinguin

18

16 Blaufuchsbar
19

17 Jothal (= Kleines Joachimsthal)
AUSSERHALB DES PLANS
18 Kulkwitzer See
19 Grünau

6

7

Peter Wensierski

Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte

Die Januarnacht

© Peter Wensierski; Helmut Rödner

D

PETER WENSIERSKI, geboren 1954, begann seine
Arbeit als Journalist 1979 mit Berichten und Repor­
tagen aus der DDR. Er war damals der jüngste westliche
Reisekorrespondent und schrieb für den SPIEGEL und
andere Zeitungen. Als Dokumentarfilmer, Reporter und
Buchautor berichtete er über die aufkommende Oppo­
sitionsbewegung in der Jugend, den Kirchen, in Künstler8

und Intellektuellenkreisen. Nach einem Arbeits- und
Einreiseverbot setzte er für die ARD die Berichte über
das Leben in der DDR fort. Seit 1993 arbeitet er beim
SPIEGEL im Deutschlandressort. Sein 2014 erschienenes
Buch Die verbotene Reise über die abenteuerliche
Flucht zweier DDR-Bürger über Russland, die Mongolei
und China wurde ein Bestseller.

er Regen hatte endlich aufgehört, als Carola,
Theo und Uwe direkt vom »Jothal« aus
am späten Abend die Zweinaundorfer Straße
im Leipziger Osten erreichten. Das Kopfstein­
pflaster war noch nass und glänzte im Licht der
Gas­laternen. Es war mitten im Winter, doch seit
Wochen schon viel zu warm. Ein milder Wind
wehte um die Häuser. Und als hätte er gefallenen
Schnee weggetaut, gab er den dreien ein Gefühl
unheimlicher Leichtigkeit.
Gegenüber der Einmündung des Kohlgarten­
wegs, kurz nach einer Kohlenhandlung und einem
Konsum, gab eine Lücke in den vorderen Häusern
den Blick auf ein weiter hinten liegendes Gebäude
frei. Durch diese kurze Sackgasse gingen sie zu
einem etwas versteckt liegenden Wohnhaus. An
der Seite waren Trabis, Ladas und ein ziemlich
verbeulter Barkas geparkt. Der Weg mündete in
einen kleinen Hof.
Zu ihrer Rechten zeichneten sich die Umrisse
einer großen Garage gegen die schnell dahin trei­
benden Wolken ab. Eine private Autowerkstatt.
Doch um diese Zeit arbeitete dort niemand.
Erst jetzt hatten sie freien Blick auf das ganze
Haus. Nur ganz oben links unter dem Dach brannte
Licht in einer Wohnung. Die drei beschleunigten

ihren Schritt. Bevor Uwe die schwere Haustür
öffnete, sah er sich noch einmal prüfend um.
­Gefolgt war ihnen offenbar niemand.
Carola drängte sich an ihm vorbei und drückte
im Flur auf den rot glimmenden Lichtschalter.
Ein funzeliges Licht ging an. Das laute Ticken
der Schaltuhr begleitete sie im Treppenhaus über
alle Stockwerke bis nach oben.
Uwe war gespannt, wer und wie viele wohl zum
Treffen kommen würden. In den vergangenen
­Tagen hatte er noch ein paar Leute angesprochen,
denen er über den engeren Kreis hinaus am ehes­
ten vertraute.
»Wir haben eine wichtige Sache vor«, hatte er
einfach nur gesagt. »Wir treffen uns am Mittwoch­
abend ab neun in der Zweinaundorfer.« Er fand,
das musste reichen.
Als ihnen im obersten Stockwerk Micha die
Tür öffnete, sagte er, sie seien nun wohl die
­Letzten, die gekommen waren. Die anderen saßen
oder standen schon in dem kleinen, vom Tabak­
qualm und dem defekten Kachelofen verräucherten
Wohnzimmer von Micha und Bine. Uwe schaute
sich um. Das konnten nicht alle sein. Wo blieben die
anderen? Ein paar Handschläge zur Begrüßung,
und sie fanden noch einen Platz am warmen
­Kachelofen. Michas Frau Bine schwieg. Johanna,
ihr Baby war erst seit wenigen Wochen auf der
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9

10

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Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit. Lassen
Sie uns gemeinsam eintreten
– f ür das Recht auf freie Meinungsäußerung,
– f ür die Versammlungs- und Vereinigungs­
freiheit,
– f ür die Pressefreiheit und gegen das Verbot
der Zeitschrift »Sputnik« und kritischer
sowjetischer Filme.
Die Frechheit stand am Schluss des Flugblattes,
getarnt als Höflichkeit gegenüber der Partei:
Um nicht die offizielle Kundgebung in ihrem
eigenen Anliegen zu stören, rufen wir Sie auf, gemäß Artikel 27 und 28 der Verfassung, sich am
15. Januar 1989 um 16 Uhr auf dem Markt vor
dem Alten Rathaus zu versammeln. Anschließend
ist ein Schweigemarsch mit Kerzen zur Gedenkstätte in der Braustraße vorgesehen.
Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft.
Alle hatten es gelesen, niemand sagte etwas.
Micha warf eine einfache Frage in den Raum:
»Wer ist heute Nacht mit dabei?«
Matthias, der am längsten auf den Text gestarrt
hatte, gab ihm das Blatt zurück. »Leute, dafür

© Michael Arnold

Welt, und Bine fand das Risiko dieser Aktion
unkalkulierbar.
Micha verschwand und kam kurz darauf zu­
rück ins Zimmer. Er hatte etwas geholt und trat
damit in die Mitte des Raumes. Alle Augen rich­
teten sich auf das kleine Blatt in seiner Hand.
Man sah, dass es eng beschrieben war.
»Darum geht’s heute Nacht.«
Micha redete lieber nicht so viel. Als er am
­frühen Abend mit dem Fahrrad nach Hause ge­
kommen war, hatte er einige Gestalten bemerkt,
die wahrscheinlich sein Haus überwachten.
Er gab den Zettel aus der Hand und ließ ihn
herumgehen. Es wurde still im Raum. Jeder las,
manchmal zwei oder drei Nebeneinanderstehende
gleichzeitig. Das Blatt wanderte langsam von
Hand zu Hand.
Es war Michas ursprünglicher Entwurf, auf
seiner Schreibmaschine geschrieben. Aufruf an
alle Bürger der Stadt Leipzig lautete die Über­
schrift.
70. Jahrestag der Ermordung zweier Arbeiterführer – Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Und wieder werden tausende Werktätige verpflichtet, einer Kundgebung »beizuwohnen«, bei
der die Redner die jährlich wiederkehrenden
­Ansprachen halten.
Die beiden seien doch für ein ungehindertes
Vereins- und Versammlungsleben, für eine freie
und ungehemmte Presse, für allgemeine Wahlen
und den freien Meinungskampf eingetreten.
Menschen, die dieses Vermächtnis unter Berufung
auf die Verfassung unseres Landes nach 40 Jahren
DDR-Geschichte in Anspruch nehmen, werden
immer wieder kriminalisiert.
Der Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht soll uns Anlaß sein, weiter für
eine Demokratisierung unseres sozialistischen
Staates einzutreten.
Es ist an der Zeit, mutig und offen unsere
­Meinung zu sagen. Schluß mit der uns lähmenden

landen wir alle im Knast! Das geht doch auf
­keinen Fall gut. Die Stasi steht wahrscheinlich
schon längst unten vor der Tür. Wir kriegen
­womöglich zwei, drei Jahre Knast oder mehr. Ich
kann das nicht machen ohne Abstimmung mit
meiner Frau. Bei zwei kleinen Kindern kann ich
nicht plötzlich für Jahre im Knast verschwinden,
ohne vorher darüber mit ihr gesprochen –«
Micha unterbrach ihn: »Ist in Ordnung,
­Matthias. Niemand muss heute Nacht dabei sein,
niemand muss sich gedrängt fühlen. Wer die
­Aktion nicht vertreten kann, der braucht nicht
mitkommen. Ich dachte, es ist richtig, genau
diesen Gedenktag für Luxemburg und Lieb­
­
knecht zu nutzen.«
Micha bückte sich, öffnete die Klappe des
­Kachelofens und verbrannte den Zettel. Er rich­
tete sich wieder auf.
»Freiheit ist immer die Freiheit der Anders­
denkenden, der Satz von Rosa Luxemburg gilt
doch wohl zuerst unter uns?«
Niemand widersprach.
»Der Satz tut den Genossen schon lange leid«,
meinte Rainer, »seit vergangenem Januar in Berlin
ganz besonders.«
Alle wussten, was er damit meinte. Nach den
Verhaftungen in Berlin vor einem Jahr gab es bei
den anschließenden Protesten Losungen wie »Frei­
heit für Andersdenkende« oder »Luxemburg im
DDR-Gefängnis«. Das musste den Parteigenossen
wehgetan haben.
Immer wieder ging Micha zum Fenster, um
­hinauszuspähen. Die Dielen knarrten unter sei­
nen Füßen. Niemand hier wusste, dass er vor
der Aktion unter den Brettern seine Geheim­
bibliothek versteckt hatte: hektografierte Unter­
grundschriften aus der ganzen DDR, Flugblätter
und Abschriften verbotener Bücher und Texte.
Micha wandte sich wieder den anderen zu:
»Ich hab euch zu mir eingeladen, damit wir in
Ruhe reden können, bevor es losgeht. Hier in

meiner Wohnung sind die Flugblätter nicht. Wer
heute Nacht verteilen will, holt sie woanders ab.
Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben,
wenn er jetzt geht.«
Jemand fragte, ob sich die Leipziger wohl
­trauen würden, zu einer ungenehmigten Demo in
die Innenstadt zu kommen.
Micha erinnerte an die vielen Teilnehmer beim
Pleißemarsch im vergangenem Jahr, die Aufbruchs­
stimmung auf dem Platz vor der Nikolaikirche
und den Schweigemarsch zur ehemaligen Syna­
goge. »Wir sind viel weiter als vor einem Jahr.
Eine Demo vom Markt aus könnte der Zünd­
funke sein. Heute Nacht können wir Tausende
Leipziger erreichen. Klar, wir wissen nicht, ob es
klappt, und es ist riskanter als die Friedensgebete
hinter den Türen der Nikolaikirche. Aber mit
­denen kommen wir nicht mehr weiter. Wir müssen
richtig auf die Straße, wenn sich was ändern
soll.«
Matthias wollte noch etwas klarstellen. »Ganz
ehrlich Leute«, meinte er zu den anderen, »ich
stehe voll und ganz hinter dem Inhalt des Flug­
blattes. Aber bei der Verantwortung, die ich
für meine Familie hab, ist mir die Aktion einfach
zu heiß.«
Uwe konnte das gut verstehen: »Jeder ent­
scheidet hier für sich selbst.«
Das Gespräch ging nicht mehr lange hin und
her. Viel Zeit blieb nicht, wenn die Verteilung
heute Nacht noch klappen sollte. Matthias ver­
abschiedete sich, die anderen blieben, fest ent­
schlossen mitzumachen.
Uwes Anspannung wich, sie waren auf jeden
Fall genügend Leute. Die fertig gedruckten Flug­
blätter lagen immer noch bei Constanze. Sie zu
holen war seine und Gesines Aufgabe.
Die anderen sollten nach und nach Michas
Wohnung wieder verlassen und für mögliche
­Beobachter den Eindruck erwecken, als gingen
sie nach Hause. In Wahrheit sollten sie sich auf
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verschiedenen Wegen durch die Stadt zu Jochens
Wohnung in der Schletterstraße begeben, gut fünf
Kilometer entfernt. Die lag näher am Stadt­
zentrum. »Erst wenn alle wieder da sind, machen
wir dort die eigentliche Einweisung!«

© Frank Sellentin /Archiv Bürgerbewegung Leipzig

Um die Lage zu prüfen, verließ Micha als erster
das Haus und traf unten in der kleinen Sackgasse
auf Matthias, der noch gedankenverloren herum­
stand. Micha fiel auf der anderen Seite der Zwei­
naundorfer erst eine, dann eine zweite Gestalt
auf, die wohl wieder zur Überwachung dort
stand. Micha wollte noch ein paar Worte mit
Matthias wechseln, doch in diesem Moment kam
zufällig ein Schwarztaxi vorbei, das sie an der
zögerlichen Fahrweise erkannten. Auf einen Wink
hin stoppte es vor ihnen. Weil staatliche Taxis
knapp waren, kurvten immer etliche Leipziger
mit ihrem Privatwagen durch die Stadt, um sich
etwas Geld dazu zu verdienen – das war verboten,
wurde aber geduldet.
Micha stieg mit drei anderen, die inzwischen
aus der Wohnung gekommen waren, in den
­Wagen. Der schwarzglänzende russische Wolga
rauschte den Beobachtern Richtung Stadtzent­
rum davon. Micha dirigierte den Fahrer auf ein
paar Umwegen bis in die Nähe der Schletter­
straße. Den Rest des Weges erledigten sie unbe­
obachtet zu Fuß.
Drei weitere Teilnehmer des Treffens in Michas
Wochnung liefen zunächst durch ein paar Straßen
der Umgebung, um zu sehen, ob ihnen jemand
folgte. Sie gingen in eine Gaststätte, und tat­
sächlich kamen zwei Leute hinter ihnen her. Sie
verließen die Eckkneipe, sprangen in ein Taxi
und hängten ebenfalls ihre Beschatter ab.
Auch Uwe und Gesine erwischten unten auf
der Straße ein Schwarztaxi. Sie fuhren auf
­Umwegen zu Constanze, in einem Moskwitsch
mit einem sächselnden Fahrer, der unentwegt
über die vielen Schlaglöcher schimpfte. Am Ziel
12

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verlangte der Mann zwar kein Geld, schaute aber
erwartungsvoll seine Mitfahrer an. Gesine drückte
ihm stillschweigend einen Schein in die Hand.
Sie klingelten Constanze aus ihrer Wohnung.
Die 10 000 Flugblätter waren in einem alten
Holzkoffer und zwei Ledertaschen im Keller ver­
steckt. Dort roch es feucht und schimmelig, nach
fauligen Kartoffeln und nach Braunkohle. Das
verrostete Vorhängeschloss an der Tür des Holz­
gatters knarzte erbärmlich, bevor es den Weg in
einen Verschlag voller Gerümpel freigab. Koffer
und Taschen standen neben einem alten Sessel
und waren so ziemlich die einzigen nicht ver­
staubten Gegenstände hier unten.
Constanze zog den Koffer hervor und wuchtete ihn
hoch. »Lass uns schon alles in kleinere B
­ ündel
aufteilen!« Uwe holte Einmalhandschuhe heraus,
jeder streifte sich ein Paar über, um keine Spuren zu
hinterlassen. Jeweils 500 Flugblätter verschwan­
den, eingewickelt in Papier der Leip­ziger Volkszeitung, die Constanze von einem Alt­papier­stapel
aus der Nachbarschaft besorgt hatte.
»Sturmböen und Gewitter mit starken Nieder­
schlägen überquerten die DDR«, diese Schlag­
zeile stand auf dem ersten Päckchen, das Gesine
fertig machte. »Ach, sieh mal hier«, stieß Uwe sie
an. Er hielt seine Zeitung ins Licht. »Präsident
Mitterrand zum bevorstehenden Besuch Erich
Honeckers,« las er vor. »Beim traditionellen Neujahrsempfang für die Presse im Elysée-Palast
sagte Mitterand, die DDR sei ein aktiver, starker
und letztlich ziemlich benachbarter Staat ...«
Er ließ das Blatt sinken und sah Gesine an:
»Na, das wird wohl nicht so schnell was mit einer
Frühstücks-Einladung für uns ...«
Die fertigen Päckchen wanderten in die beiden
Ledertaschen, ein paar Volkszeitungen noch
obendrauf. Falls irgendein Vopo sie kontrollieren
würde, wäre das besser als gar keine Tarnung. So
war es auf den ersten Blick nur Altpapier, das
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man bei der Oma abgeholt hat, um es am nächs­
ten Tag gegen etwas Geld bei der Altstoff-­
Annahmestelle abzugeben. Der Koffer samt ein
paar Flugblättern blieb im Keller zurück.
Mit der brisanten Ladung machten sie sich auf
den Weg durch die Leipziger Nacht. Die beiden
Frauen mit den Ledertaschen per Straßenbahn,
Uwe mit dem Fahrrad hinter ihnen her.

Katrin studierte dort ein Auslandsemester Psycho­
logie und kannte die Szene in der Stadt.
Und jetzt? Alles sein lassen? Alles abblasen?
»Oder gehen wir das Risiko ein?«
Rainer antwortete als Erster: »Ich weiß, wo ich
lebe und was ich riskiere. Es besteht immer die
Gefahr, verhaftet zu werden.«
»Es ist nicht das erste Mal«, sagte Frank, »dass
ein Flugblatt verteilt wird.« Die anderen sahen
ihn an. »Gut, es sind diesmal ein paar mehr.« Er
musste lachen, und ein befreiendes Lachen ging
durch die ganze Runde.
»Warum sollte es jetzt nicht klappen? Klar, das
kann passieren. Ich hab meine Zahnbürste dabei.
Wenn sie uns verhaften, dann aber bitte erst, wenn
wir alles verteilt haben. Lasst uns bald damit an­
fangen, bis jetzt haben wir noch freie Hand.«
Theo meldete sich zu Wort. »Du hast Recht.
Ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Morgen
früh beginnt meine Schicht in Espenhain auch
wieder um sechs. Also, ich hab keine Zeit zu ver­
lieren.«

Micha sah sich um. Es war klar, dass es vor
Sonntag für sie sonst keine andere Möglichkeit
mehr gab, die Flugblätter zu verteilen. Gesine,
Uwe und Constanze würden wohl bald mit ihnen
hier sein. Er sagte, mehr zu sich selbst, als zu den
anderen: »Ich will mein Handeln nicht länger
von denen bestimmen lassen!«
Und irgendwie war es damit entschieden.
Micha ging in den Nebenraum und spähte
durch das Fenster in die Dunkelheit. Vor dem Haus
war nichts zu sehen. Er stellte zwei brennende
Kerzen auf das Fensterbrett. Das war das verein­
barte Zeichen für die Flugblatt-Transporteure,
dass sie den Koffer nach oben bringen konnten.
Die anderen standen über einem Stadtplan von
Leipzig gebeugt und grenzten die Gebiete ab, in
denen sie verteilen wollten.
Keiner sollte alleine unterwegs sein, sondern
mindestens zwei zusammen. Die Flugblätter soll­
ten möglichst flächendeckend verteilt werden,
aus Vorsicht zeitgleich ab Mitternacht von den
äußeren Stadtgebieten her in Richtung Zentrum.

© Anita Unger

© Armin Wiech / Archiv Bürgerbewegung Leipzig

In Jochens Wohnung in der Schletterstraße waren
inzwischen alle eingetroffen, die beim Verteilen
helfen wollten. Frank und Rainer waren direkt zu
Jochen gekommen. Mit Uwe und Gesine, die
noch unterwegs waren, waren sie dreizehn Leute.
Micha berichtete von den Verfolgern, die er
auf der Fahrt mit dem Taxi abgeschüttelt hatte.
Andere hatten auf ihrem Weg hierher ebenfalls
festgestellt, dass sie beobachtet wurden.
»Woher wissen die das nur schon wieder?«
Micha war ratlos, wütend und verzweifelt. Allen
war klar, dass die Aktion auf der Kippe stand.
Solche Gestalten lungerten ja oft vor ihren Woh­

nungen herum, das kannten sie gut. Meist nur
als Protokollanten des Geschehens. Doch Be­
obachter konnten sie heute Nacht wirklich nicht
gebrauchen.
»Schmeißen wir es? Ist es zu riskant oder
­sollen wir die Sache durchziehen?«
Bisher hatte es wunderbar geklappt, alles war
vorbereitet, auch alles drumherum. Micha, Rainer
und Thomas hatten es organisiert, dass ihre Aktion
den Basisgruppen in der ganzen DDR bekannt
würde. Sie hatten sichergestellt, dass Westpresse
und -fernsehen über den Inhalt des Flugblattes
berichten konnten, und auch ihre Freunde von
der Charta 77 in Prag wussten Bescheid. Als die
ersten Flugblätter gedruckt waren, hatte Micha
eines abgezweigt, es in einen Umschlag gesteckt,
dazu einen Brief an Petr Uhl in Prag geschrieben,
damit es dort von den Oppositionellen noch vor
dem 15. Januar öffentlich gemacht würde. Also
morgen oder übermorgen. Mit dem Umschlag
hatte sich Katrin Dorn, eine Mitstudentin von
Bine, im Zug auf den Weg nach Prag gemacht.

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16

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dann – ohne seinen Namen zu nennen – nur seine
Nummer durchgeben. So könnten sie am nächs­
ten Tag schnell herausfinden, ob jemand erwischt
worden war.
Es war spät geworden. Sie mussten endlich
­beginnen.
Micha wunderte sich, warum die Flugblätter
noch nicht eingetroffen waren. Er ging noch ein­
mal in den Nebenraum. Die Kerzen brannten
noch. Vor dem Haus war niemand zu sehen.
»Sie müssten doch längst hier sein«, dachte er
und beschloss hinunterzugehen. Doch auf der
Schletterstraße sah er auch niemanden. Er wartete.
Da kam plötzlich Constanze auf der anderen
Straßenseite auf ihn zu. Sie ging an ihm vorbei,
ohne Kontakt aufzunehmen. Er begriff, dass er ihr
folgen sollte. In einer Seitenstraße verschwand er
mit ihr in einen Hauseingang, der offen stand.
Sie berichtete, dass eigentlich alles geklappt
habe. Uwe und Gesine würden bald folgen und
hätten alle Flugblätter dabei. Micha blieb mit ihr
im Schutz des Hauseinganges und beobachtete
die Straße und den schwer überschaubaren Platz
mit der Peterskirche. Tatsächlich tauchten Gesine
und Uwe wenige Minuten später aus dem Dunkel
des Platzes auf. Sonst war niemand zu sehen.
Gesine erzählte Micha, sie seien auf dem Weg
ziemlich sicher von Stasi-Leuten verfolgt worden,
zeitweise sogar mit einem Lada. Es hatte länger
gedauert, sie abzuschütteln. Angesichts der Lage
beschlossen sie, die Flugblätter nicht in Jochens
Wohnung zu bringen. Micha kannte einen nahe­
gelegenen Hinterhof an der Ecke Liebknechtstraße.
Er war weitläufig und hatte Zugänge von mehre­
ren Seiten. Dort sollten sie mit den Flugblättern
warten. Die anderen würden dann alle fünf Minu­
ten in Zweiertrupps zu ihnen kommen. Micha
drückte Constanze noch rasch die Telefonliste
mit allen Vornamen in die Hand und nannte ihr
die Anschrift von Jutta. Dann ging er vorsichtig
zurück zu den anderen.

© Michael Arnold

Zentrale Plätze, Passagen und Orte wie die
­Moritzbastei wollten sie meiden. Wenn jemand
mit den Flugblättern in der Hand kontrolliert
würde, könne er sagen, man habe sie in der
­Straßenbahn gefunden.
Eigentlich wusste jeder selbst, was er mit den
Flugblättern zu tun hatte, und unterwegs würde
sich schon der Rest von alleine ergeben. Aber
Micha zählte noch mal auf: »Einzeln in Brief­
kästen, kleine Stapel auf Fenstersimse oder in
Telefonzellen, ein paar mehr in Wartehäuschen
oder in die Straßenbahn legen.«
Die Stadtbezirke und die Verteiltrupps standen
bald fest. Leipzig-Mitte, Gohlis, Schönefeld,
Thekla, Mockau, Stötteritz, Anger-Crottendorf,
Plagwitz, Grünau und die Bezirke Süd, Südost
und West. Constanze, die die Flugblätter her­
brachte, würde nicht mehr mit verteilen.
Eine besondere Rolle hatte Gesine mit Hilfe
ihrer Freundin Anita deren Tante Jutta über­
tragen. Die Tante war mehr eine Freundin, denn
als Anita achtzehn Jahre geworden war, zogen
die beiden Frauen zusammen, bis jeder von ihnen
wegen der Baufälligkeit des Connewitzer Hauses
eine eigene neue Wohnung zugewiesen bekam.
Jutta war unverdächtig und besaß privat eines der
seltenen Telefone, dank Schwiegervater bei der
Reichsbahn. Jutta hatte keine Angst vor mög­
lichen Folgen. Sie hing nicht besonders an ihrer
Arbeitsstelle und lebte entspannt nach dem
­Motto, wenn etwas nicht mehr sein soll, dann tun
sich eben andere Türen auf. Das wusste Anita.
Sie hatte mit Jutta verabredet, dass jeder, der
beim nächtlichen Flugblattverteilen mitmachte,
am nächsten Tag bei ihr anrufen würde. Micha
schrieb daher noch schnell für Jutta die Vorna­
men der nun endgültig feststehenden Verteiler
auf und hinter jeden Namen eine Nummer. 12 für
Gesine, 1 für Jochen, 4 für Carola, 6 für Uwe.
Jeder sollte bis 18 Uhr, von welchem Telefon
auch immer, in Leipzig die 57484 anrufen und

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