METAHIS1 (PDF)




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Title: META-Geschichte
Author: Thanish

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Vorwort an den skeptischen Leser
Die folgende Arbeit versucht einen Grund für die Wissenschaft von der Geschichte zu legen. Dieses Ziel umfaßt zum
einen die Methode des historischen Forschens (Historik) und zum anderen die historischen Modelle und
Gesetzmäßigkeiten (Theoriebildung). Da der Untersuchungsgegenstand des Historikers durch seine
Untersuchungsmethode konstituiert wird, können die beiden Aspekte nicht künstlich voneinander getrennt werden.
Auf der Suche nach den historischen Gesetzen sind allerdings drei wichtige Hürden zu überwinden:
1. muß man sich dem Argument stellen, daß es historische Gesetze überhaupt nicht geben könne (Popper). Dieser
Vorwurf läßt sich logisch entkräften, da er bereits eine ganz bestimmte theoretische Konzeption von Geschichte
voraussetzt, um dann doch ihre prinzipielle Möglichkeit zu bestreiten.
Der 2. Einwand besagt, daß es solche Gesetze zwar geben mag, wir sie aber nie (völlig) entdecken werden. Hier wird
irrtümlich aus dem Tatbestand, daß die Suche bisher erfolglos war, auf die angebliche Nutzlosigkeit des ganzen
Unternehmens geschlossen. Praktisch gilt das Argument für jede Forschung, ohne daß sich deshalb die
Wissenschaftler je von ihrem Bemühen haben abhalten lassen. Die Erfolge haben ihre Anstrengungen immer erst nach
längeren Zeiträumen belohnt.
Das 3. Hindernis verwirft unsere Bemühungen mit dem moralischen Verdikt, die Existenz historischer Gesetze zwinge
uns eine deterministische Welt auf, die dem Menschen keine Freiheit zum Handeln lasse. Hierauf darf man einwenden,
daß die Naturwissenschaftler auch nicht die Naturgesetze abschaffen können. Die Schwerkraft steht nicht zu unserer
Disposition, und alle Menschen unterliegen ihr. Dennoch gelang es den Ingenieuren, sich diese Kraft zunutze zu
machen, um sie wenigstens partiell zu überwinden. Flugzeuge würden ohne die Schwerkraft und ohne das Wissen um
sie nicht fliegen können. Sollten wir deshalb auf unser Wissen verzichten und dumm sterben?
Zum Abschluß noch eine kurze Anmerkung zum Begriff der META- Geschichte, die einem Mathematiker erlaubt sei:
Sei T die Menge alles dessen, was der Fall ist, also die Gesamtheit der Tatsachen; sei Q die Menge aller
unvergangenen Spuren, also die Gesamtheit der Quellen; sei H die Menge aller wahren Erkenntnisse der
Geschichtsschreibung, also die Gesamtheit der Forschungsergebnisse.
Zu jedem Forschungsergebnis gibt es (Rationalität vorausgesetzt) mindestens eine Quelle, die es belegt; zu jeder
Quelle gibt es (Echtheit vorausgesetzt) mindestens eine Tatsache, die sie her vorgebracht hat.
Somit (keine Wirkung ohne Ursache) sind die Relationen a: H -> Q und b: Q -> T Abbildungen. Die Umkehrung von
a kann als Geschichtsschreibung und die von b als Empirie, die Verknüpfung der beiden Inversen kann als Theorie
bezeichnet werden.
Sollten sich die Abbildungen als injektiv (d.h. daß nie zwei verschiedene Elemente auf das gleiche Element abgebildet
werden) und surjektiv (d.h. daß zu jedem abgebildeten Element ein ursprüngliches existiert) erweisen, gibt es eine
eineindeutige Beziehung zwischen Fakten und Geschichtsschreibung, also nur eine allgemeingültige Theorie.
Ich vermute, daß zwischen der Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses (Geschichte) und der ihr unterliegenden
Gesetzmäßigkeit der Geschichtsschreibung (Forschung) eine selbst ähnliche (fraktale) Beziehung herrscht. Aus der
Geschichte der Geschichtsschreibung erhoffe ich mir daher strukturverträgliche Rückschlüsse (Isomorphismen) auf die
META-Theorie der Geschichte.

1

META-Geschichte
Versuch einer Grundlegung der Geschichtswissenschaft
I. Vorbemerkungen
Ich gehe davon aus, daß historische Forschung ohne theoretische Begründung unmöglich ist und daher derjenige, der
dies bestreitet, nur seine stets mitgedachten Annahmen nicht offenlegt.1 So bedienen sich manche Historiker
unreflektierter Fragestellungen, Methoden und theoretischer Prämissen, um Geschichte angemessen zu rekonstruieren.
Ganz im Sinne Rankes, der auch "bloß" zeigen wollte, "wie es eigentlich gewesen" 2, versäumen sie es, ihre
Auswahlkriterien, Erkenntnisinteressen und impliziten Theorien zu offenbaren. Da aber der wissenschaftliche
Charakter der Beschäftigung mit Geschichte notwendig deren intersubjektiven Überprüfbarkeit bedarf, muß ein
solcher - scheinbar untheoretischer - Versuch als unkritisch verworfen werden.
Poppers Behauptung, d i e Geschichte widersetze sich prinzipiell der Vorhersage (und damit auch der Theorie),
entbindet uns - selbst wenn sie wahr wäre - nicht von dieser Sorgfaltspflicht. 3 Daß es sich bei historischen Arbeiten
jedoch nicht um Geschichtsphilosophien handelt - und nur gegen die wendet sich Popper, wenn auch nicht korrekt -,
wird sogar derjenige bestätigen, der gegenüber Theorien Skepsis zeigt. Es ist also nötig, den Begriff der
Geschichtstheorie zunächst zu definieren, bevor das Verhältnis von Theorie und Geschichte genauer diskutiert werden
kann.
In Anlehnung an den Definitionsversuch von Kocka/Nipperdey4 verstehe ich unter theoretischen Modellen in der
Geschichtswissenschaft (einem Begriff, den ich dem der 'Geschichtstheorie' vorziehe) keine Totalerklärungen der
Geschichte. Vielmehr handelt es sich dabei um begrenzte, explizite und konsistente Systeme verallgemeinerter
Aussagen, die der Identifikation, Problematisierung und kausalen Erklärung historischer Tatsachen dienen. Sie müssen
(stets?) kritisierbar5, intersubjektiv überprüfbar und notfalls revidierbar sein.
Aus dieser Abgrenzung wird deutlich, daß historizistische Gefahren, wie sie Popper für die Geschichtsphilosophien
Hegels, Marx' oder Spenglers fürchtet, vermieden werden sollen. Doch handelt es sich bisher nur um eine formale
Definition, die noch der inhaltlichen Konkretisierung bedarf.
Der 'klassische' Historismus vertritt mit Ranke die These: "jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht

1

G. Patzig, Theoretische Elemente in der Geschichtswissenschaft, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte, Theorie der Geschichte, Bd. 3, hg.
von Kocka/Nipperdey, München 1979, S. 140: "Ein Historiker, der sich entschließt, ohne Theorie auszukommen, wäre also ein Historiker, der sich
entschließt, die Theorien, die er tatsächlich als begrifflichen Rahmen seiner Untersuchung immer schon voraussetzt, nicht explizit zu machen."
2

L. v. Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 33/34, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, S. VII: "Man hat der Geschichte das Amt, die
Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger
Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen."
3

K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, Vorwort zur englischen Ausgabe, Tübingen, 1979, 5. Auflage, S. XIf: "Ich habe gezeigt, daß es uns
aus streng logischen Gründen unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen. [...] Das bedeutet,
daß wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft,
die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen
Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich." Dieser Beweis beruht m.E. leider auf einem logischen Trugschluß, da Popper
aus seinem Wissen über die Zukunft (nämlich daß sie von dem Wachstum unseres Wissens abhänge) die Unmöglichkeit eines solchen Wissens
folgert.
4

Theorie der Geschichte, Bd. 3, S. 9.

5

Zum [unmöglichen] reflexiven Gebrauch des Kritisierbarkeitspostulats der Popperianer wendet H.P. Duerr, Ni Dieu - ni mètre, Frankfurt 1985, S.
28f, ein: "Jemanden, der seine Bereitschaft zur Kritik beständig 'severe tests' aussetzte, den würden wir wohl eher für einen Zwangsneurotiker als
für besonders kritisch halten. [...] Mit allen totalitären Haltungen scheint der 'comprehensively critical rationalism' die Gemeinsamkeit zu haben, so
umfassend (comprehensive) sein zu wollen, daß er sich noch selber mitumfaßt, sich 'am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht' - ein Bild, das die
Szientisten [Popperianer] so gerne für ihre Gegner reserviert halten -, eine Haltung, die wie Marx es einmal im Hinblick auf die Linkshegelianer
sagte, 'die Kritik für den absoluten Geist und sich selber für die Kritik' hält."

2

gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." 6Diese
Forschungstradition nutzt die individualisierende Methode vor allem zur Untersuchung von Staatsaktionen und
'großen' Persönlichkeiten.7 Im hermeneutischen Sinnverstehen glaubt man ein geisteswissenschaftliches Analogon zum
deduktiven Erklären der Naturwissenschaften gefunden zu haben, ohne daß damit jedoch die theoretischen
Implikationen einer solchen Methode benannt werden. "Es sieht so aus, als ob sich der Interpret in den Horizont der
Welt oder der Sprache hineinversetzte, aus der ein überlieferter Text jeweils seinen Sinn bezieht. Aber auch hier
konstituieren sich die Tatsachen erst im Verhältnis zu den Standards ihrer Feststellung." 8 Habermas erkennt darin
ebenso einen objektivistischen Schein wie in der positivistischen Naturwissenschaft und fordert deshalb die
dialektische Verbindung und gegenseitige Kritik beider Methoden.9
Aufgrund dieser erkenntnistheoretischen Kritik entwickelte sich in den späten 1960er Jahren im Umkreise H.-U.
Wehlers das Programm der "Historischen Sozialwissenschaft", die die ' Theoriebedürftigkeit' der Geschichte
diagnostizierte.10 Sie fordert sogenannte 'Theorien mittlerer Reichweite', die im weiteren Sinne meiner
Begriffsdefinition entsprechen.11 Eine solche Theorie soll ihrer Meinung nach außerdem Gesichtspunkte zur
Periodisierung bieten, die Erfassung funktionaler Beziehungen und den Vergleich (diachron/synchron) von
Gesellschaften ermöglichen sowie praktisch anwendbar sein.12
Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen lassen sich auch die verschiedenen Forschungstendenzen mit den beiden
beschriebenen geschichtswissenschaftlichen Zugriffen13 identifizieren. Die 'ältere' (historistische) Forschung betrieb vor
6

Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Darmstadt 1954, S. 7.

7

G.G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, München 1978, S. 27: "Jedoch beschränkte und verengte die Art der Quellen, die benutzt wurden, den
Gesichtskreis des Historikers: statt der umfassenden Sozial- und Kulturgeschichte der Aufklärung dominierte jetzt eine sich auf politische und
religiöse Ereignisse sowie das Wirken mächtiger und einflußreicher Personen konzentrierende Geschichte, die die Beziehung zu ihrer weiteren
Umgebung verloren hatte."
8

J. Habermas, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt 1968, S. 157.

9

Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1982,
10. Aufl., S. 165: "Indem die dialektische Betrachtungsweise die verstehende Methode derart mit den vergegenständlichenden Prozeduren
kausalanalytischer Wissenschaft verbindet und beide in wechselseitig sich überbietender Kritik zu ihrem Rechte kommen läßt, hebt sich die
Trennung von Theorie und Geschichte auf: nach dem Diktum der einen Seite hätte sich Historie theorielos bei der Erklärung spezifischer Ereignisse
zu bescheiden, der hermeneutischen Ehrenrettung zufolge bei einer kontemplativen Vergegenwärtigung vergangener Sinnhorizonte."
10

Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt (1973), S. 29.

11

Ebenda, S. 31. Zweifelhaft bleibt allerdings seine metaphysische Behauptung: "Dagegen wird man darauf beharren müssen, daß die
Vergangenheit unabhängig vom erkennenden Subjekt Strukturen besitzt, sozusagen weiche, keine von vornherein eindeutig harten, schnell aus der
Sache selbst sich ergebenden, jedenfalls erkennbare, durch einen Pluralismus konkurrierender Interpretationen erschließbare. Wird das nicht
eingeräumt, so entfällt eine entscheidende Prüfungsinstanz für die Erklärungskraft jeder historischen Theorie." (Ebenda, S. 32) Unbestreitbar
werden solche Strukturen (wie in den Naturwissenschaften) bei unserer Forschung vorausgesetzt, aber daraus folgt nicht ihre Existenz. Im Sinne
Poppers kann keine Hypothese jemals endgültig bewiesen und nach T.S. Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1976,
2.Auflage) keine abschließend verworfen werden. Ebenda, S. 157: "Trotzdem dürfen anomale Erfahrungen nicht mit falsifizieren den gleichgestellt
werden. Ich glaube sogar, daß es letztere überhaupt nicht gibt. [...] Wenn jede einzelne Nichtübereinstimmung ein Grund für die Ablehnung einer
Theorie wäre, müßten alle Theorien allezeit abgelehnt werden." Damit entfällt zwar möglicherweise diese formal-(onto)logische Prüfungsinstanz,
nicht jedoch die der praktischen Arbeit des Historikers. Dazu auch Duerr, S. 15: "Denn es gibt da gar keine Sicherheit, auf die wir etwa verzichten
müssen, und es gibt auch keinen Gott, der in seinem Schweigen zu uns spricht. 'Gelten lassen', das scheint etwas zu sein, das man erst gelten lassen
müßte. Wittgenstein hätte hier gesagt: Die Geltung gilt, nichts hinter der Geltung!"
12

Wehler, Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Theorie der Geschichte, Bd. 3, S. 35-38.

13

Wehler spricht in Anlehnung an T.S. Kuhn auch von verschiedenen "Paradigmata". (Wehler, in: Stürmer, Das kaiserliches Deutschland,
Düsseldorf 1970, S. 235) Mir erscheint diese Übernahme des Begriffs nicht nur deshalb als problematisch, weil er bei Kuhn auf die
Naturwissenschaften bezogen wird. Helmut Seiffert (Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2, München 1983, 8. Auflage) sieht in diesem
Konzept sogar einen "Historismus in neuem Gewande", der sich gerade in der Unvergleichbarkeit solcher Paradigmata offenbare. (Ebenda, S. 222)
"In Wahrheit ist der Historismus mehr als ein beliebiges Beispiel für ein 'Paradigma' unter vielen möglichen anderen. Der Historismus ist, in Bezug
auf Kuhns Theorie, viel mehr. Er ist das ungenannte, stillschweigende, implizite Prinzip der gesamten Theorie." (Ebenda, S. 229) "Die gegenwärtige
Hochschätzung der Kuhnschen Theorie ist also nichts als eine unbewußte Verbeugung vor dem Prinzip des Historismus, die nur beweist, daß der
Historismus nicht tot ist und auch nicht tot sein kann." (Ebenda) Seiffert stellt zu Recht fest, daß Kuhns Paradigma-Konzept durchaus dem bereits
zitierten Ranke-Diktum (Anmerkung 6) entspricht. Insofern ist Kuhn auch historistisch, und wie er selbst richtig bemerkt, beschreibt die
Geschichtswissenschaft "ihren Gegenstand seit langem auf diese Weise". (Kuhn, S. 220) Doch erstreckte sich der reale Historismus nicht nur auf
dieses Zitat. Indem Seiffert also den Historismus auf ein leeres Prinzip reduziert, ohne zu klären, was denn Epochen überhaupt sind, wodurch sie

3

allem Diplomatie- und Politikgeschichte 'großer' Persönlichkeiten und Ereignisse, wie sie sich in den Quellen
'offenbarte'. Die 'neuere' Sozial- und Wirtschaftsgeschichte orientiert sich dagegen mehr an gesellschaftlichen
Strukturen, die sie auch anhand von Statistiken zu ermitteln sucht. Konzentrierte sich die traditionelle
Betrachtungsweise im internationalen System auf die individualisierten Staaten, liegt die moderne Perspektive im
nationalen Kontext auf den gesellschaftlichen Interessengruppen.
Je nach Fixierung gerät so der innen- oder der außenpolitische Aspekt aus dem Blick und wird 'unscharf'. Aufgabe
einer historiographischen Arbeit sollte es daher sein, beide Gesichtsfelder sich quasi 'stereoskopisch' ergänzen zu
lassen. Dazu müssen die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Strukturen (Entscheidungsträger, sozioökonomische Bedingungen und internationales System) ebenso wie unterschiedliche Zeithorizonte 14 einbezogen
werden.

sich auszeichnen und wie sie ineinander übergehen, macht er einen Denkfehler. Er verteidigt nicht den Historismus, sondern eine abstrakte Idee. Die
Ironie liegt nun darin, daß sich Wehler hinsichtlich dieses Prinzips gar nicht von Ranke unterscheidet, auch er erkennt die Existenz voneinander
unabhängiger Epochen an (Periodisierung). Wäre nur dies das Paradigma, so läge tatsächlich keine wissenschaftliche Revolution (ein ParadigmenWechsel) vor. Aber in diesem Punkt irrt Seiffert. Der Unterschied zwischen Wehler und Ranke besteht nicht in einem formalen Grundsatz, sondern
in seiner inhaltlichen Konkretisierung ("leitende Ideen" Rankes/"Theorien mittlerer Reichweite" Wehlers). Der Wandel vollzog sich vom
'idealistischen' zum 'materialistischen' Aspekt, die angeblich inkommensurablen Paradigmata sind also in Bezug auf ihre Voraussetzungen durchaus
vergleichbar.
14

Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, S. 18-20, nennt zum Beispiel: Ereignisse, Generationen, Konjunkturwellen,
geographische Zeiten. Ausführlicher dazu: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band: Vom Feudalismus des alten Reiches bis
zur Defensiven Modernisierung der Reformära. 1700 - 1815. München 1987, S. 1 - 31. In dem Bemühen, "dem Leser das größtmögliche Maß an
Klarheit über die Kriterien, die Werturteile, die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen, über ihre Vorzüge und Nachteile, ihre Chancen und
Grenzen zu verschaffen" (Ebenda, S. 3), entscheidet sich Wehler maßvoll abwägend für einen Theorieneklektizismus, den er unter das Paradigma
der Historischen Sozialwissenschaft zusammenfaßt (S. 29). Seine Wahl der drei gleichberechtigten Dimensionen der Gesellschaftsgeschichte
(Wirtschaft, Herrschaft und Kultur) orientiert sich explizit an Habermas' Trias von Arbeit, Herrschaft und Sprache. (S. 7) Als "regulative Idee im
Sinnes Kants" (S. 7) schwebt ihm eine Totalgeschichte vor, eine Utopie, die nur aus pragmatischen Gründen eingeschränkt wird. Inwieweit dieser
Anspruch bereits Poppers Geschichtsphilosophien nahekommt, muß hier offenbleiben, metaphysische Spekulationen sind jedoch zu befürchten.

4

II. Einige Thesen zur geschichtswissenschaftlichen Praxis:
1. Der Historiker versucht, sich und anderen menschliche Vergangenheit zu vergegenwärtigen15, d.h. sie rational und
adäquat zu (re)konstruieren.
2. Dabei bedient er sich allgemein anerkannter Fragestellungen, Methoden und Erfahrungen, die seinen Versuch
objektivieren, d.h. nachprüfbar machen, sollen.
3. Trotz aller innerwissenschaftlichen Kontroversen16 über die Richtigkeit spezieller Ergebnisse bleibt die prinzipielle
Schwierigkeit jedes geschichtswissenschaftlichen Versuchs meist unreflektiert: woher nimmt der Historiker die
Gewißheit über seinen Gegenstand, die Angemessenheit seiner Fragestellungen, Methoden und Rekonstruktionen?
4. Der formalen Definition von Geschichte in These 1 fehlt z.B. nahezu ganz ihr inhaltliches Substrat: wer
vergegenwärtigt sich wann und wo in welcher Weise was? Ist historische Wahrheit stets relativ, ganz zufällig und
damit beliebig, oder gar unmöglich?
5. Auch die Forderung nach Selbstreflexion und Ideologiekritik löst dies grundsätzliche Problem historischer
Erkenntnis nur, wenn man Geschichte mit Reflexion über Vergangenheit identifiziert, ohne eine vom reflektierenden
Subjekt unabhängige, objektive Geschichte vorauszusetzen.
6. Folgt der Historiker diesem idealistischen Ansatz, gerät er in Gefahr, einer Schimäre nachzujagen17; postuliert er
eine materiale Geschichte (welche und warum gerade diese?), so bleibt immer noch die Frage nach den
Erkenntnisbedingungen der Geschichtswissenschaft.
7. Geschichtswissenschaftliche Hermeneutik unterscheidet sich nur im Umfang der ausdrücklich genannten
theoretischen Gesetzmäßigkeiten von den naturwissenschaftlichen Verfahren, sie ist ohne theoretische Modelle
überhaupt nicht denkbar. (Siehe Anmerkung 33)
8. Der Versuch, Geschichte über Erzählung zu definieren bzw. zukonstituieren18, verschiebt lediglich das Problem,
solange nicht durch eine Theorie erklärt wird, wie die narrative Struktur zwischen dem Gegenstand und der
Rekonstruktion vermittelt und ob diese Vermittlung angemessen ist.19
9. Trotz der erkenntnistheoretischen Probleme hinsichtlich der Gewißheit des Gegenstandes, die jedoch alle
Wissenschaften bisher nicht endgültig lösen konnten, besteht kein Anlaß, in der Geschichtswissenschaft auf
(naturwissenschaftliches) Erklären anhand theoretischer Modelle zu verzichten. Daß sich die Methoden des
15

DUDEN 7, Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963: "vergegenwärtigen - 16. Jahrhundert, Lehnübersetzung von lat. 'praesentare'". "Gegenwart von mittelhochdeutsch 'gegenwart' = Anwesenheit, seit dem 18. Jh. auch als Zeitbezeichnung für 'Präsens'". DUDEN 10, Bedeutungswörterbuch,
Mannheim 1970: "vergegenwärtigen - deutlich in die Erinnerung bringen; sich vorstellen".
16

Wie z.B. der Fischer-Kontroverse oder dem Historikerstreit.

17

Woraus noch nicht geschlossen werden kann, daß dieser Ansatz falsch sein muß!

18

H.M. Baumgartner, Erzählung und Theorie in der Geschichte, in: Theorie der Geschichte, Bd. 3, S. 261f: "In der Geschichtswissenschaft, d.h. in
der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung ist Erzählung (als eigentümliche Formgebung und Strukturierung des Materials) das
charakteristische organisierende Prinzip, das im Rahmen von gleichsam apriorischen Grunddimensionen (Natur-Mensch-Gesellschaft) theoretische
Erkenntnisse aus beliebigen Nachbardisziplinen nach Maßgabe empirischer Kenntnisse, tradierter Bedeutungsinterpretationen und schon
vorliegender Erzählungen zur Beschreibung und Erklärung signifikanter Ereigniszüge einzubringen, anzuwenden und fruchtbar zu machen erlaubt.
In dieser These ist eingeschlossen, daß Theorie zur Darstellung und Erklärung spezifischer Züge, Eigenschaften, Zustände von Ereignissen
verwendet werden können, nicht jedoch, daß sie mit dem historischen Gegenstand bzw. Sachverhalt, den sie beschreiben oder erklären sollen,
identisch sind. Theorien, von denen es in der Regel mit Bezug auf dasselbe historische Objekt mehrere gibt, die sich alternativ verhalten, setzen
einen 'Gegenstand' voraus; sie selbst können ihn nicht geben."
19

W. Hardtwig, Theorie oder Erzählung - eine falsche Alternative, in: Theorie der Geschichte, Bd. 3, S. 294: "In der Tat ist die Struktur temporaler
Sukzession (bei Baumgartner: 'Erzählstruktur') ein grundlegendes formales Prinzip, welches Wissen in jeder Historie organisiert. In seiner
Formalität sagt es jedoch nur, daß Ereignisse und Zustände in zeitlicher Sukzession angeordnet werden, nicht, wie sie aufeinander folgen. Die
Herstellung einer temporalen Struktur geht über die bloße 'und-dann'-Aneinanderreihung nur hinaus, wenn Selektionsprinzipien, Sinnentwürfe,
Vermutungen über Kausalverhältnisse vorliegen, die in der verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung immer schon theoriegeleitet sind."

5

Historikers von denen des Physikers unterscheiden (wie diese sich wiederum von denen des Biologen), widerlegt nicht
die Tatsache, daß alle Wissenschaft der theoretischen Reflexion bedarf.
10. Die Geschichte der Naturwissenschaften20 bietet genügend Anlaß, über Entwicklung, Mängel und Revision von
Theorien nachzudenken. Doch niemand wird angesichts der heutigen technischen Fähigkeiten bestreiten, daß sich die
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Theorien verbessert haben. Der Erkenntnisfortschritt ist also vor allem eine
Frage der Praxis. Warum wird dann dieser Fortschritt in der (noch jungen) Geschichtswissenschaft für unmöglich
gehalten? Die Behauptung21, Geschichte widersetze sich prinzipiell der theoretischen Erklärung und Prognose, da sie
vom Individuellen handle, impliziert bereits eine ganz spezielle Theorie der Geschichte. Sie bestreitet also, was sie
selbst voraussetzt.
11. Nur wer den Zusammenhang von Theorie und Geschichte, ja die Notwendigkeit einer theoretischen
Geschichtswissenschaft leugnet, setzt sich dem Ideologieverdacht aus. Eine explizite Theorie oder besser: theoretische
Modelle dagegen können kritisiert und revidiert werden. Sie hemmen keine wissenschaftliche Praxis, sie beleben sie
vielmehr erst.
12. Unter theoretischen Modellen verstehe ich keine Totalerklärungen der Geschichte, sondern (ähnlich den
naturwissenschaftlichen Modellen) begrenzte, explizite und konsistente Systeme verallgemeinerter Aussagen, die der
Identifikation, Problematisierung und (kausalen) Erklärung historischer Tatsachen dienen. Sie müssen kritisierbar,
überprüfbar und damit revidier bar sein.
13. Nach Popper kann eine allgemeine Aussage nie verifiziert werden, da man stets nur eine endliche Zahl von Fällen
überprüfen kann. Dann läßt sich allerdings auch keine einzige Aussage falsifizieren, da dies lediglich in bezug auf eine
bereits verifizierte Aussage möglich ist.22 Ohne Verifikation also auch keine Falsifikation. Es ist Kuhns Verdienst, die
These von der Falsifikation auch historisch-empirisch als Illusion entlarvt zu haben. Doch stellt sich mit der Immunität
von Theorien gegen die Falsifikation wieder die Frage nach der Rationalität der Wissenschaft.
14. Für Stegmüller23 besteht eine Theorie aus einer logischen und einer empirischen Komponente, dem sogenannten
Strukturkern und den paradigmatisch-intendierten Anwendungen. Dabei setzt sich der Strukturkern aus dem
Fundamentalgesetz und den grundlegenden Nebenbedingungen zusammen, der durch spezielle Gesetze und
Nebenbedingungen erweitert werden kann. "In diesen Kernerweiterungen, und nur in diesen, bestehen die eigentlichen
wissenschaftlichen Hypothesenbildungen."24 Auch die offene Menge der intendierten Anwendungen kann vergrößert
werden, ohne daß sich die Theorie verändert, solange die paradigmatische Ausgangsmenge nicht berührt wird.
Die Immunität von Theorien gegen Falsifikation beruht nun darauf, daß stets nur spezielle Erweiterungen des Kerns
oder der Anwendungen widerlegt werden, ohne daß davon die Theorie als solche betroffen wäre. 25 "Da die Natur
20

Siehe T.S. Kuhn.

21

K.R. Popper, Hat die Weltgeschichte einen Sinn? in: Seminar: Geschichte und Theorie, hg. v. H.M. Baumgartner und J. Rüsen, Frankfurt 1982, 2.
Auflage, S. 310: "Jene Wissenschaften nun, die dieses Interesse an spezifischen Ereignissen und an ihrer Erklärung besitzen, können wir im
Gegensatz zu den generalisierenden [Natur]Wissenschaften die historischen Wissenschaften nennen."
22

C.F. v. Weizsäcker, Einheit der Natur, München 1982, 2. Auflage, S. 124: "Der zweite Einwand ist, daß man einen allgemeinen Satz empirisch
nicht einmal falsifizieren kann, es sei denn man setzt andere allgemeine Sätze schon als verifiziert voraus."
23

Siehe auch: Stegmüller, Akzidenteller ('nichtsubstantieller') Theorienwandel und Theorienverdrängung, in: Rationale Rekonstruktion von
Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979.
24

Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, Stuttgart 1979, 6. Auflage, S. 757.

25

W. Stegmüller, Wissenschaft und wissenschaftliche Revolutionen, in: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart
1979, S. 116: "Damit haben wir eine Argumentation von Popper, in der die Nichtverifizierbarkeit von Gesetzen gezeigt wird, parallellisiert,
allerdings zum Nachweis der Nichtwiderlegbarkeit von Theorien."
Oder logisch gesprochen: Wenn aus der allgemeinen Theorie A das experimentelle Ereignis E folgen soll, dann kann ein Fehlschlagen des
Experiments nur drei Gründe haben:
1. Die Aussage 'Wenn A dann E' ist falsch, d.h. das gewünschte Ergebnis kann nicht aus der Theorie gefolgert werden, es 'paßt' nicht zu ihr; dies
käme für Positivisten [wie Popper] einer Widerlegung der Praxis durch die Theorie gleich, wäre also unzulässig.
2. Das Experiment ist gar nicht fehlgeschlagen, wir erliegen nur einer Täuschung; dann wäre zu fragen, ob wir uns nur dann täuschen lassen, wenn

6

theoretischer Größen sogar diese Möglichkeit [das naturwissenschaftliche Fundamentalgesetz zu widerlegen] aus
schließt, ist keine Situation denkbar, die eine Widerlegung der Theorie beinhaltet."26 Um dennoch einen
Leistungsvergleich der logisch inkommensurablen Theorien zu bieten, folgert Stegmüller: "Theorienverdrängung mit
'Erkenntnisfortschritt' ist dann gegeben, wenn die alte Theorie auf die neue strukturell reduzierbar ist.
Theorienverdrängung ohne Fortschritt liegt hingegen vor, wenn keine derartige Reduktion möglich ist."27
15. Popper glaubt auch zu beweisen, daß wir aus logischen Gründen nicht den zukünftigen Verlauf der Geschichte
rational vorhersagen können: Da (a) der Ablauf der Geschichte durch das Anwachsen unseres Wissens beeinflußt
wird, wir aber (b) unser zukünftiges Wissen noch gar nicht besitzen, sei eine solche "theoretische
Geschichtswissenschaft" unmöglich.28 Popper setzt also bereits ganz bestimmte (theoretische) Annahmen über die
Geschichte und ihren zukünftigen Verlauf voraus (a), um Vorhersagen über eben denselben zu widerlegen. Welche
Logik hier waltet, bleibt sein Geheimnis. Zudem bestreitet Popper keineswegs die Möglichkeit von Sozialprognosen
(etwa der Wirtschaftstheorien)29, womit die Triftigkeit seines "Beweises" wohl endgültig als Popanz entlarvt sein
dürfte. Er widerlegt, was niemand beabsichtigt, nämlich geschichtsphilosophische Totalerklärungen.
16. Die Forderung nach theoretischen Modellen in der Geschichtswissenschaft bedeutet keine Absage an bewährte
hermeneutische Verfahren. Denn im Gegensatz zu den positivistischen Naturwissenschaften sind wir uns des
objektivistischen Scheins sogenannter Tatsachen bewußt. Jede Beobachtungssprache ist bereits "theoriegetränkt", 30
ohne daß es jemals möglich wäre, sie auf "reine" Fakten zu reduzieren. "In Wahrheit sind die Basissätze keine
Abbildungen von Tatsachen an sich, sie bringen vielmehr Erfolge oder Mißerfolge unserer Operationen [im
Experiment] zum Ausdruck."31 So wie historische Praxis ohne Theorie blind macht (These 7), kann eine theoretische
Geschichtswissenschaft ohne hermeneutische Verfahren nur leer bleiben.32Erst in einem wirklichen Pluralismus
(dialektisch?) verschränkter erklärender und verstehender Methoden liegt die Zukunft unserer Disziplin.
17. Der scheinbare Gegensatz von Theorie und Erzählung in der Geschichte löst sich auf, wenn man die historische
Praxis in eine stets theoriegeleitete Geschichtsforschung und eine nur narrativ konstituierte Geschichtsschreibung
differenziert.
18. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet sich nicht von irgendeiner anderen Wissenschaft.

Experimente fehlschlagen. Bleibt also
3. Die allgemeine Theorie A muß falsch sein. Dies ist jedoch meist ärgerlich und höchst unproduktiv, daher wählt der erfolgreiche Wissenschaftler
den eleganten Ausweg
4. Er spaltet A in den Strukturkern Ak und die paradigmatisch-intendierten Anwendungen An auf. Nun ist A bereits dann falsch, wenn nur eines
der beiden Teile falsch ist, und dies können (müssen aber nicht!) die intendierten Anwendungen sein. Der Strukturkern bleibt also immun gegen
diese experimentelle Widerlegung. Die allgemeine Theorie A kann solange nicht verworfen werden, wie nicht ihre Uminterpretation in Ak
durchschaut wird.
26

Stegmüller, Hauptströmungen, S. 766.

27

Stegmüller, Hauptströmungen, S. 771.

28

Siehe Anmerkung 3.

29

Popper, Elend des Historizismus, S. XII. Dazu auch Popper, Hat die Weltgeschichte einen Sinn?, S. 311: "Wer an Gesetzen interessiert ist, der
muß sich den generalisierenden Wissenschaften zuwenden (z.B. der Soziologie)."
30

Stegmüller, Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273, in: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und
ihrem Wandel, S. 82: "Ferner hat sich ergeben, daß gewisse Formen des Verstehenszirkels in einem engen Zusammenhang stehen zu dem 'Problem
der Theorienbeladenheit der Beobachtungen'."
31

Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt 1973 , S.156.

32

Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, S. 165: "Damit objektiv sinnverstehend die Geschichte selbst durchdrungen werden
kann, muß sich, wenn anders die geschichtsphilosophische Hypostasierung eines solchen Sinnes vermieden werden soll, Historie zur Zukunft hin
öffnen. Gesellschaft enthüllt sich in den Tendenzen ihrer geschichtlichen Entwicklung, also in den Gesetzen ihrer historischen Bewegung erst von
dem her, was sie nicht ist:[...]"

7

Die Unterscheidung in Geistes- und Naturwissenschaften ist völlig willkürlich und sinnlos. 33 Der wissenschaftliche
Anspruch des Experiments, das zum Beispiel Astronomen oder Paläontologen nicht kennen, beruht nicht auf seiner
besonderen Wahrheit (die kennt auch der Physiker nicht), sondern auf seiner Nachprüfbarkeit, Wiederholbarkeit etc.
Dieses intersubjektive Kriterium erfüllt beim Historiker die Quelle i.w.S. Auswahl und Deutung von Experiment wie
Quelle unterliegen allein den bestimmten Regeln, die von der wissenschaftlichen Gemeinde vereinbart wurden, aber
keiner immanenten Autorität. Experimente sind im übrigen nur solange wiederholbar, wie man davon ausgeht, daß
dieselben Ausgangsbedingungen zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten bestehen können. Insofern
unterliegen sie auch dem 'historischen' Manko. Ein Ergebnis der Chaosforschung ist jedoch die Beobachtung, daß
selbst mikroskopische Abweichungen in den Anfangsbedingungen (etwa im Rahmen von Meßungenauigkeiten) bei
rekursiven (also zeitlichen) Prozessen zu zufälligen und unvorhersehbaren makroskopischen Auswirkungen führen
(Beispiel Meteorologie).34 Selbst sogenannte Naturgesetze beanspruchen heute keine ewige Gültigkeit mehr.
19. Wissenschaft ist nichts anderes als Problemlösen.
Zum Problemlösen gehören immer Auswahl und Interpretation, d.h. das Erkennen als Problem und der Versuch seiner
Lösung. Jede Wissenschaft geht dabei von ihren spezifischen Problemen aus, eine Erklärung oder Begründung für
einen Vorgang zu finden, die eben nicht offensichtlich ist. Dabei bedient sie sich des Verfahrens von 'Trial and Error',
von Hypothesen (Theorien) und Experimenten (Quellen), analog zur Mutation und Selektion in der Evolution.35 Eine
Lösung gilt als richtig, wenn die Erklärung mit den neuen Erfahrungen und den bereits bekannten Erkenntnissen in
Übereinstimmung gebracht werden kann. Wann die Begründung als hinreichend gilt, ist aber mehr noch eine Frage der
wissenschaftlichen Regeln, also der Praxis, die nicht von vornherein geklärt werden kann.36
Ob der Erkenntnisprozeß dabei auf eine bessere Anpassung der Theorien an die Wirklichkeit zielt 37 und rational
genannt werden kann, muß Spekulation bleiben. Folgte die Evolution nur dem blinden Spiel des Zufalls, dann könnte
Rationalität als die planvolle Abkürzung des sonst länger währenden Weges definiert werden. Da aber weder das Ziel
noch das zukünftige Tempo der Entwicklung bekannt sind (siehe Popper), fehlt uns jedes Kriterium zur Messung des
Fortschritts im Denken. Tautologisch gesprochen: Rational ist, was nicht anders erreicht wird, weil sich das andere
nicht neben der Zeit erweisen kann.

33

Stegmüller, Walthers Lied, S. 82: "Und schließlich haben wir die Einsicht gewonnen, daß keine einzige Form dieses [hermeneutischen] Zirkels
dafür nutzbar gemacht werden kann, um Geisteswissenschaften von Naturwissenschaften oder historische Wissenschaften von nichthistorischen
Wissenschaften systematisch abzugrenzen oder gar 'positiv auszuzeichnen'. Denn, um dies nochmals zu betonen, potentiell bedroht sind von all
diesen Schwierigkeiten sämtliche Wissenszweige."
34

Siehe dazu: U. Deker/H. Thomas, in: Bild der Wissenschaft, 1/1983, Januar 1983, S. 63-75. "Mathematisch gesehen sind alle Systeme höchst
chaosverdächtig, die mehr als zwei Freiheitsgrade haben. Dies trifft auch auf alle komplizierteren Modelle für wirtschaftliche, gesellschaftliche oder
ökologische Prozesse zu. Insbesondere bei den 'Weltmodellen' muß man mit Chaos rechnen. Langfristige Prognosen sind daher skeptisch zu
betrachten."(Ebenda, S. 75) Chaos-Forscher sprechen in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten 'Schmetterlingseffekt': "Kleine Details der
Wetterlage, und in globaler Betrachtung gelten oftmals auch Gewitter und Schneestürme als kleine Details, können binnen kürzester Frist jede
Vorhersage in Makulatur verwandeln. Irrtümer und Unsicherheiten vermehren sich in atemberaubendem Tempo und summieren sich zu einer
ganzen Kette charakteristischer Einzelheiten; [...]" (J. Gleick, Chaos - die Ordnung des Universums, München 1988, S. 35)
35

Siehe dazu auch den Ansatz von G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1981, 3. Auflage. J. Piaget, Meine Theorie der geistigen
Entwicklung, Frankfurt 1983, versucht die Entwicklungen von menschlicher Intelligenz und Erkenntnistheorie zu parallelisieren. Dabei ließen sich
Hypothesen und Experimente mit Akkomodation und Assimilation kognitiver Schemata vergleichen. "Wenn sich die Erkenntnistheorie einfach die
Frage stellt, was Erkenntnis im allgemeinen sei, so glaubt sie in der Lage zu sein, Abstraktionen ohne Rückgriff auf die Psychologie vornehmen zu
können, weil sich das Subjekt, wenn die Erkenntnis geleistet ist, tatsächlich vom Schauplatz zurückzieht. In Wahrheit ist das jedoch eine große
Illusion, da jede Erkenntnistheorie, selbst wenn sie bemüht ist, die Tätigkeiten des Subjekts auf ein Minimum einzuschränken, implizit auf
psychologische Interpretationen zurückgreift." (Ebenda, S. 85) "Diese unbestreitbaren Feststellungen [daß Erkenntnistheorie nicht statisch ist] sind
gleichbedeutend mit dem Prinzip unserer 'genetischen Erkenntnistheorie', das besagt, um die Frage zu beantworten, was Erkenntnis sei, müsse man
sie wie folgt formulieren: Wie wächst Erkenntnis?" (Ebenda, S. 86)
36

H.P. Duerr, Ni Dieu - ni mètre, Frankfurt 1985, S. 14: "'Begründet' ist ein Urteil, wenn wir es gelten lassen, und das heißt irgendwann: gelten
lassen und nicht so sehr: gelten lassen."
37

Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 102: "Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen
passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen
Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte."

8

20. Problemlösen ist das Übersetzen verschiedener Sprachen
Unter einer Sprache verstehe ich hier ein Ausdrucksmittel von endlich vielen Zeichen und Kombinationsregeln
(Syntax). Jedes dieser Zeichen stammt aus einem begrenzen Mustervorrat und vertritt einen bestimmten
Zeichenträger. Dabei kann es sich um ein Anzeichen (z.B. das Symptom einer Krankheit), um ein bildhaftes oder um
ein symbolisches Zeichen (wie ein Wort) handeln, je nach dem, wie ähnlich es dem Träger ist. Zeichen haben
immanent implizierte, individuell abgewandelte oder gar beliebig gesetzte Bedeutungen, die letztlich auf den
Konventionen ihrer Benutzer beruhen, ohne die jegliche Kommunikation sinnlos wäre.38
Somit ließe sich Wissenschaft wie folgt deuten: Der Physiker versucht zum Beispiel aus den oberflächlichen
Beobachtungen (Anzeichen) die tieferen Gesetzmäßigkeiten (Syntax) der Natur zu entschlüsseln. Daß sie nicht
vereinbart, sondern schlicht vor gegeben sind, ändert nichts am semiotischen Charakter der Forschung39 - der
Wissenschaftler überträgt die natürliche in seine formalisierte Sprache. Er übersetzt sie, indem er die Bedeutungen der
Zeichen aus ihrem Gebrauch in verschiedenen Situationen (Experimenten) errät. Erfolgreich ist seine Suche, wenn er
vorhersagen kann, wie sich unter bestimmten Bedingungen die Natur verhält, d.h. wenn er mit ihr praktisch
kommuniziert.
Forschungsprobleme erweisen sich damit als Übersetzungsschwierigkeiten. Auch die wissenschaftlichen Revolutionen
Kuhns stellen sich als solche Übersetzungsprobleme inkommensurabler Paradigmen dar.40

38

Vergleiche H. Benesch, Der Ursprung des Geistes, Stuttgart 1977, S. 222ff.

39

C. Ginzburg, Spurensicherungen, Berlin 1983, S. 93f: "Insofern kann man den Historiker mit einem Arzt vergleichen, der die
Krankheitsbeschreibungen nur benutzt, um die spezifische Krankheit des einzelnen zu analysieren. Wie die medizinische Erkenntnis ist auch die
Erkenntnis der Geschichte indirekt, durch Indizien vermittelt, konjektural." Diese Methode wird als abduktiv bezeichnet, d.h. sie schließt aus der
allgemeinen Regel (M ist P) und dem einzelnen Resultat (S ist P) auf den besonderen Fall (S ist M), oder vereinfacht: von der Wirkung auf die
Ursache. Sie folgert also weder deduktiv-notwendig (Regel und Fall -> Resultat) wie z.B. Logik und Mathematik, noch induktiv auf das Mögliche
(Fall und Resultat -> Regel) wie die Empirie, sondern nur spekulativ wie das Spurenlesen eines Fährtensuchers.
40

Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 215: "Damit gewinnt ein zweiter Aspekt der Übersetzung, der Historikern und Linguisten
längst bekannt ist, entscheidende Bedeutung. Übersetzt man eine Theorie oder eine Weltanschauung in die eigene Sprache, dann macht man sie sich
noch nicht zu eigen. Dazu muß man einheimisch werden, entdecken, daß man in einer Sprache, die früher fremd war, denkt und arbeitet und nicht
nur aus ihr übersetzt. Diesen Übergang kann der einzelne aber nicht willentlich vollziehen oder unterlassen, aus wie guten Gründen er es auch
wünschen mag. Statt dessen stellt er irgendwann einmal, während er übersetzen lernt, fest, daß der Übergang stattgefunden hat, daß er ohne
vorherigen Entschluß in die neue Sprache übergegangen ist."

9

III. Die Analogie zwischen Semiotik41 und Historik
Bevor ich den 'Historikerstreit' untersuchen kann, muß zunächst mein Forschungsansatz näher erläutert werden. Er
kann in Anlehnung an C. Ginzburg als semiotisches Paradigma42 gefaßt werden.
Die Semiotik beschäftigt sich als Lehre von den Zeichen mit vier konstitutiven Dimensionen:
1. der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnung - der Sigmatik: sie untersucht den Begriffsumfang (die
Extension), fragt also, welche Gegenstände oder Objekte unter den Begriff fallen;
2. der Verknüpfung der Zeichen untereinander - der Syntaktik: sie analysiert das Zeichensystem (langue), die
Möglichkeiten, Zeichen korrekt zu verbinden;
3. der Bedeutung der Zeichen - der Semantik i.e.S.: sie erforscht den Begriffsinhalt (die Intension), nämlich die
Gesamtheit aller Merkmale, die den Begriff ausmachen; und
4. dem Gebrauch der Zeichen - der Pragmatik: sie beobachtet die aktualisierte Rede (parole) von Sender und
Empfänger.
Unter Zeichen verstehe ich alle Informationsträger, die als "Äquivalenzklasse gleichbedeutender Signalmengen"43
definiert werden können. Ein Signal ist stets ein physikalisches Objekt, das wahrnehmbar ist, unabhängig davon,
welches Medium genutzt wird (z.B. Laute, Buchstaben, Braille-Schrift oder Gebärdensprache).
Die Analogie zwischen Semiotik und Historik (verstanden als "Organon des historischen Denkens und Fühlens"44)
erklärt sich aus dem Spurencharakter von Zeichen und Quelle45. Insofern sollte das Indizienparadigma auch alle
Bereiche geschichtswissenschaftlicher Praxis abdecken.
Die Quelle ist ein qualitativer Informationsträger, der in den verschiedensten Manifestationen auftreten kann. Während
die Überreste als durch den Gegenstand verursachtes Anzeichen aufgefaßt werden können, entsprechen die
Traditionsquellen den Repräsentationszeichen (mag es sich nun um bildhaft-ähnliche Texte, Gemälde oder Denkmäler
bzw. um symbolisch-abstrakte Steuerlisten oder Statistiken handeln).46
Den vier Dimensionen der Semiotik lassen sich die folgenden vier methodischen Aspekte der Historik
41

Meine Begriffswahl orientiert sich weitgehend an der Einführung von H.E. Brekle, Semantik, München 1972, 2. Auflage.

42

C. Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der
Suche nach sich selbst, in: Spurensicherungen, S. 115: "Wenn auch die Realität 'undurchsichtig' ist, so gibt es doch besondere Bereiche - SpurenIndizien -, die sich entziffern lassen. Diese Idee, die den Kern des Semiotik- oder Indizienparadigmas ausmacht, hat sich in den verschiedensten
Bereichen der Erkenntnis durchgesetzt und die Humanwissenschaften tiefgreifend geformt." H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie,
Band 2, S. 71f: "Was die Forschungsmethodik anbetrifft, läßt sich daher die Geschichte mit der aus Kriminalromanen geläufigen Tätigkeit der
Detektive vergleichen: Der Täter erzählt nicht einfach, was er getan hat. Bestenfalls hüllt er sich ganz in Schweigen. Ungünstigenfalls hingegen
versucht er seine Verfolger irrezuführen: durch falsche Aussagen und durch konstruierte Spuren. Aufgabe des Detektivs ist es daher, aus kleinsten
Hinweisen, Spuren, Indizien den Hergang der Tat allmählich zu rekonstruieren - immer gewärtig, daß irgend jemand ein Interesse daran hat, ihn an
der Nase herumzuführen. So etwa arbeitet auch der Historiker."
43

G. Klaus/M. Buhr (Hg.), Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Leipzig 1970, 10. Auflage.

44

J.G. Droysen, Historik, München 1977, 8. Auflage, S. 331.

45

Droysen, Historik, S. 327: "§ 5 Alle empirische Forschung regelt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf
solche richten, die ihr unmittelbar zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind. Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die
Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem,
was war und geschah oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein."
46

Droysen, Historik, S. 332f: "§ 21 Historisches Material ist teils, was aus jenen Gegenwarten, deren Verständnis wir suchen, noch unmittelbar
vorhanden ist (Überreste), teils was von derselben in die Vorstellungen der Menschen übergegengen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist
(Quellen), teils Dinge, in denen sich beide Formen verbinden (Denkmäler)."

10

gegenüberstellen:
a) die sogenannte 'äußere' Kritik der Hilfswissenschaften47, die der Sicherung, Beschreibung und Prüfung der Quelle
auf Überlieferung, Echtheit, Vollständigkeit und Zuverlässigkeit dient [res gestae];
b) die 'innere' Kritik durch logische, sachliche und sprachliche Aufschlüsselung und zeitliche Einordnung im
synchronen bzw. diachronen Vergleich mit anderen Quellen [Zeit];
c) die (philologische) Textkritik als Auswertung des Inhalts, Aussagebereichs und Erkenntniswerts der Quelle
[Tatsachen48]; und
d) die Ideologiekritik von Standpunkt und Perspektive durch die soziale Einordnung des Urhebers (Intention) und des
Adressaten (Rezeption und Wirkung) [Mensch].49
Der Wert einer Quelle bemißt sich nach ihrem Informationsgehalt, d.h. nach der Größe des durch sie möglichen neuen
Wissens. Quantitativ drückt sich dies im Grad der Unwahrscheinlichkeit bzw. der Geordnetheit des
Informationsträgers aus. Nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nimmt in einem geschlossenen System die
Ordnung nicht zu, so daß jeder geordnete Zustand als unwahrscheinlicher und damit auch als informativer gilt.
Will ich zum Beispiel wissen, ob ein Feuerstein als menschliches Werkzeug gedient hat, so muß ich ihn mit zufällig
gefundenen Naturfeuersteinen vergleichen.50 Spezifische Unterschiede deuten dann darauf hin, daß es sich zumindest
um keinen naturbelassenen Stein handelt. Durch weitere Vergleiche mit bekannten Steinwerk zeugen ermittelt man
dann, welche Funktion der betreffende Stein vermutlich hatte. Der Informationsgehalt wächst also mit der Zahl der
Vergleiche und Differenzierungen.
Ähnlich verfährt der Paläontologe, wenn er aus einem prähistorischen Knochenfund durch Analogie mit der Anatomie
heute noch lebender Tiere auf die Größe und Eigenart des ausgestorbenen Tieres schließt. Er benutzt dazu den
evolutionistischen Grundsatz, daß Makrozustände (wie die Relation der Körperknochen) unter Selektionsdruck (beste
Anpassung an die Umwelt) weitgehend erhalten bleiben, während die Mikrozustände (Artenvielfalt) eher mutieren.
Aus dem gleichen Grund erwarten wir, daß sich Texte im Laufe der Abschriften dem jeweiligen Zeitgeist anpassen
und dabei immer mehr vom Original unterscheiden. So wird vielleicht die Grundstruktur beibehalten, möglicherweise
auch der Inhalt, doch weichen selbst genaueste Kopien in Details (wie Wortwahl und Satzbau) vom Original ab.
Andererseits kann gerade die Identität im Stil bei verschiedener Herkunft oder Aussage auf eine bewußte Fälschung
oder Täuschung hindeuten.51
Natürlich handelt es sich stets nur um Wahrscheinlichkeitsaussagen, doch unterscheiden wir uns darin nicht von den
angeblich so exakten Elementarteilchenphysikern. Unsere Schlüsse sind ebenso korrekt und nachprüfbar wie in jeder
anderen Wissenschaft.
47

Wie zum Beispiel die Paläographie, die Urkundenlehre, Heraldik und Numismatik. Vgl. A.v. Brandt, Werkzeug des Historikers, Stuttgart 1980,
9. Auflage.
48

Unter Tatsachen oder Fakten verstehe ich das, was eine Aussage wahr macht, was also der Fall ist - die Antwort auf meine wissenschaftliche
Fragestellung. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt 1977, 12. Auflage, S. 11: "Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist
die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge."
49

Die Aspekte a) und b) sind vor allem von heuristischem Wert, b) und c) verbindet das Sinnverstehen der Hermeneutik, c) und d) dienen der
Interpretation und d) und a) der Bewertung.
50

Über die Bedeutung des Vergleichs meint M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, München 1974, S. 87: "Nehmen
wir an, von einer untergegangenen Kultur sei ein einziger Gegenstand erhalten geblieben; ferner, dieser Gegenstand könnte aufgrund der
Bedingungen, unter denen er entdeckt wurde, auch mit nicht-menschlichen Spuren in keinen Zusammenhang gebracht werden, [...]. Unter solchen
Voraussetzungen wäre es völlig unmöglich, diesen einzigen Überrest zu datieren oder eine Aussage über seine Echtheit zu machen."
51

M. Bloch, Apologie der Geschichte, S. 90: "Die Ähnlichkeit darf aber auch nicht zu groß sein. Sie spräche sonst nicht mehr für die Echtheit des
Zeugnisses, sondern würde Anlaß zu einem gegenteiligen Schluß geben."

11

Das von mir gewählte Spurenparadigma legt also besonderen Wert auf das dialektischen Verhältnis von Mikro- und
Makrosphäre, d.h. wir wollen anhand unscheinbarer Indizien, die nicht bewußt beeinflußt oder gar vorgetäuscht
werden können, unsere Informationen gewinnen.
IV. Das Beispiel "Historikerstreit"
Mit den folgenden Thesen möchte ich einige zentrale Begriffe der seit dem Sommer 1986 heftig geführten Debatte 52
genauer untersuchen.
1. Zur Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen:
Jedes historische Ereignis (so die triviale These des Historismus) ist singulär53 und doch vergleichbar54(dies der
Anspruch der historischen Sozialwissenschaft), denn sonst entfiele jeglicher Erkenntniswert der
Geschichtswissenschaft. Insofern bietet sich uns eine groteske Situation: Sozialwissenschaftler wie Habermas u.a.
beanspruchen die historistische Singularität, die zudem nur von J. Fest55 für die NS-Taten wirklich bestritten wird.
Worum kann sich der Streit dann drehen - wenn nicht um die Berechtigung des Vergleichs an sich, so doch um den
Vergleichsmaßstab56. Kann also der nationalsozialistische Mord an den Juden erkenntnisfördernd (nicht moralisch!)
mit dem stalinistischen Mord an den Kulaken verglichen werden?
Ein Vergleich von Nationalsozialismus und Bolschewismus unter dem Totalitarismus-Aspekt bleibt
phänomenologisch-äußerlich, ohne die Ursachen beider Phänomene zu erklären (unterschiedliche Bedingungen,
Entwicklungen und Auswirkungen)57. Daher muß die Totalitarismus-These als mehr moralisch denn an der
wissenschaftlichen Erkenntnis orientiert verworfen werden.
Interessanter ist deshalb die Frage: warum wird über die Singularität (angesichts der weitgehenden Einigkeit)
überhaupt gestritten? Offenbart sich bei den 'Revisionisten' nicht doch der Versuch, die NS-Verbrechen zu relativieren
52

Vergleiche: A. Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums , Berlin
1986. "Historikerstreit" - Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987.
H. Hoffmann (Hg.), Gegen den Versuch, Vergangenheit zu verbiegen, Frankfurt 1987. H.-U. Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein
polemischer Essay zum "Historikerstreit", München 1988. I. Geiss, Die Habermas-Kontroverse. ein deutscher Streit, Berlin 1988. H. Senfft, Kein
Abschied von Hitler. Ein Blick hinter die Fassaden des "Historikerstreits", Hamburg 1989. H.-H. Wiebe (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit.
Historikerstreit und Erinnerungsarbeit, Bad Segeberg 1989.
53

H. Schulze in: "Historikerstreit", S. 144: "[...] jede geschichtliche Erscheinung ist singulär oder muß uns jedenfalls so vorkommen." "Singularität
und Vergleichbarkeit historischer Erscheinungen sind also für die Geschichtswissenschaft keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen,
sondern Komplementärbegriffe [...]" (Ebenda, S. 145)
54

H. Mommsen, ebenda, S. 178: "Die Frage ist vielmehr, ob aus einem solchen Vergleich richtige oder irreführende Schlußfolgerungen gezogen
werden."
55

J. Fest, ebenda, S. 103ff. "Ist nicht, bei allen Unterschieden, das Vergleichbare doch stärker?" (Ebenda, S. 103)

56

J. Kocka, "Historikerstreit", S. 134f: "Wie gesagt, für Vergleiche, die immer nach Ähnlichkeiten und Unterschieden fragen müssen, wird man
auch bei diesem Thema als Historiker eintreten, so sehr sich das Gefühl, der Takt, der Respekt vor den Millionen Toten gegen das "Aufrechnen" von
Ungeheuerlichkeiten sträuben mögen. Aber zugleich empfiehlt sich der Vergleich mit den Gesellschaften der westlichen Welt, mit denen wir uns
sonst traditionell gern vergleichen, die uns nach Entwicklungsstand, Gesellschaftsstruktur und politischen Ansprüchen verwandter, ähnlicher sind
und die nicht faschistisch bzw. totalitär pervertierten." Ein Vergleich bedarf immer eines Gemeinsamen (tertium comparationis), worin die
verglichenen Dinge überein stimmen, und eines spezifischen Unterschieds, ohne den es sich um identische handeln würde. Das Augenmerk richtet
sich dabei auf diese wesentliche Differenz (analog der Definition eines Begriffes durch die Angabe eines 'artbildenden Unterschieds' und der
'nächst-höheren Gattung'). (Philosophisches Wörterbuch, hg. von G. Schischkoff, Stuttgart 1982) Vergleiche ich den Nationalsozialismus mit dem
Bolschewismus, ist dies Gemeinsame die totalitäre Gewalt, sie wird vorausgesetzt. Die Gewalt ist nicht mehr das eigentlich interessante Objekt der
Untersuchung, noch wird sie in Frage gestellt. Das Ergebnis kann nur die Aussage sein, daß auch andere totalitäre Gesellschaften grausam waren
und sind (auch eine 'Banalität des Bösen'). Wollen wir jedoch wissen, warum die deutsche Geschichte in Auschwitz kulminierte, müssen wir sie mit
Gesellschaften vergleichen, die gerade nicht pervertierten. Das Böse muß eben das spezifisch Andere im Vergleich sein!
57

H. Mommsen, "Historikerstreit", S. 185: "Die Analogie zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus ist vielmehr geeignet, bloß äußerliche
Gemeinsamkeiten für die konstitutiven zu halten."

12

und damit zu normalisieren?58 Natürlich wird diese Absicht entschieden bestritten59, aber wozu dann die
Hartnäckigkeit bei dem Verweis auf die bolschewistischen Taten?
Wer hätte schließlich je die Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus behindern bzw. verhindern wollen oder gar
können? Gerade hierauf müßten Nolte u.a. schon einmal Namen nennen. Hat nicht die 'Linke' wegen dieses Verdachts
immer noch die größten Probleme, eine eigenständige, undogmatische, sozialistische Linie zu verfolgen? Wie steht es
außerdem mit Habermas' Vorwurf vom 'Linksfaschismus', ist er nicht schon deshalb der falsche Gegner (der allerdings
publikumswirksam und vielleicht auch für seine z.T. unsachliche Polemik zu Recht angegriffen werden kann)?60
2. Zur Kausalität zwischen Archipel Gulag und Auschwitz:
Nolte versucht, den nationalsozialistischen Mord durch Hitlers angebliche Bedrohungsängste verständlich zu
machen.61 Diese Psychologisierung ist sachlich unhaltbar62 und tendenziell apologetisch, da sie von naheliegenden (für
das Bürgertum allerdings wenig schmeichelhaften) Begründungen für den Mord an den Juden ablenkt. Auch hier stellt
sich somit die Frage nach dem Sinn der Debatte: was wäre (ebenso wie mit der Vergleichbarkeit <> Gleichsetzung)
durch die Kausalität gewonnen?
Unterstellt, daß es sich nicht um böse Absicht handelt, muß die Identifizierung des Mordes an den Juden als
"'asiatische' Tat"63 geradezu fahrlässig rassistisch erscheinen, da doch weder die Juden noch die russischen
Revolutionäre als Asiaten bezeichnet werden können.64 Selbst die Zitierung kann eine gewisse Identifikation mit der
Denkweise der Nazis nicht verhehlen, da der Historist Nolte durchaus sein Objekt Hitler richtig zu verstehen glaubt
und die angeblichen Bedrohungsängste für begründet hält.
So gerät der sich identifizierende Historist (ähnlich wie Hillgruber)65 leicht in den Verdacht, zu wenig kritische Distanz
zu seinem Objekt zu wahren und womöglich dessen Handlungen zu rechtfertigen.
58

Habermas, "Historikerstreit", S. 249: "Der identifikatorische Zugriff auf die nationale Geschichte verlangt aber eine Relativierung des
Stellenwerts der negativ besetzten NS-Zeit; für diesen Zweck genügt es nicht mehr, die Periode auszuklammern, sie muß in ihrer belastenden
Bedeutung eingeebnet werden."
59

Fest, "Historikerstreit", S. 100f. Nipperdey, ebenda, S. 216. Nolte, ebenda, S. 227 und 229. Hillgruber, ebenda, S. 345.

60

Ein besonders eiferndes Beispiel setzt I. Geiss, der Habermas in das Zentrum der Debatte stellt. (Geiss, Die Habermas-Kontroverse, S. 9 u. 25).
Inwieweit persönliche Animositäten in seiner Kritik mitschwingen, mag sein Hinweis belegen, daß sich die Habermas-Anhänger in der FischerKontroverse nicht wie Geiss exponiert hätten. "Sie [die linken Historiker] überließen es im wesentlichen Fischer selbst, die Kontroverse
durchzustehen - und dem Verfasser, der damals im Prinzip eine ähnliche Behandlung von rechts erfuhr wie heute von links." (Ebenda, S. 15) Da
dies aber für alle Beteiligten im Historikerstreit gilt (gerade für Fischers damaligen Gegner Hillgruber, den Geiss jetzt glühend verteidigt), beweist
der Ausfall nur den gekränkten Stolz des Kritikers.
61

Nolte, "Historikerstreit", S. 24: "[...] aber es wird sich kaum leugnen lassen, daß Hitler gute Gründe hatte, von dem Vernichtungswillen seiner
Gegner sehr viel früher überzeugt zu sein als zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Nachrichten über die Vorgänge in Auschwitz zur Kenntnis der Welt
gelangt waren." "Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer 'Völkermord',
sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution." (Ebenda, S.
32.) Vergleiche S. 45f und 226.
62

E. Jäckel, "Historikerstreit", S. 121: "Im Gegenteil war Hitler immer der Ansicht, Sowjetrußland sei, gerade weil es von Juden beherrscht werde,
ein wehrloser Koloß auf tönernen Füßen. Der Arier hatte keine Angst vor slawischen und jüdischen Untermenschen. [...] Dagegen verstand er es
vorzüglich, die antibolschewistischen Ängste der Bourgeosie für seine Zwecke zu mobilisieren. [...] Was man uns suggerieren will, ist die These
von einem Präventivmord." Vergleiche Kocka, ebenda, S. 136 und Mommsen, ebenda, S. 180.
63

Nolte, "Historkerstreit", S. 45: "Aber gleichwohl muß die folgende Frage als zulässig, ja unvermeidbar erscheinen: Vollbrachten [sic!] die
Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine 'asiatische' Tat vielleicht nur [!] deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche
Opfer einer 'asiatischen' Tat betrachteten? War nicht der 'Archipel GULag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klassenmord' der
Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten?"
64

Natürlich ist die Kennzeichnung 'asiatisch' als solche nicht pejorativ, doch so war sie von Hitler intendiert. Rassistisch ist die Äußerung, weil die
Grausamkeit nur einer Rasse zugerechnet wird, als wäre es ihr typischer Charakterzug.
65

Hillgruber, Zweierlei Untergang, S. 24: "[Der Historiker des Winters '44/45] muß sich mit dem konkreten Schicksal der deutschen Bevölkerung
im Osten und mit den verzweifelten und opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine im Ostseebereich
identifizieren [...]".

13

3. Zur Revision des Geschichtsbildes:
Wie alle Begriffe dieser Debatte kann 'Revision' eigentlich nicht strittig sein, da wissenschaftlicher Fortschritt ohne die
Revision alter Erkenntnisse nicht denkbar ist. Insoweit ist der Anspruch der 'Revisionisten' wissenschaftstheoretisch
honorig66, stützt aber ihre inhaltliche Argumentation nicht notwendig.
Was hat nun die Aufforderung Fests, aus dem Schatten Hitlers zu treten 67, zu bedeuten? Fügt sich diese
'Historisierung' der NS- Zeit68 nicht trefflich ein in die politische Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung im
Zusammenhang mit dem 8. Mai 1985 und in die Angriffe konservativer Politiker (wie F.J. Strauß und A. Dregger) auf
den Bundespräsidenten, man solle endlich das 'Büßergewand' ablegen und wieder 'aufrecht gehen'?69
Es muß also auch hier gefragt werden, ob die Äußerungen Noltes und Fests wirklich nur zufällig in der FAZ (einer
bestimmt nicht linken Zeitung) zu finden sind. Müssen nicht auch Historiker und Publizisten darauf achten, welchen vielleicht ungewollten - Tendenzen sie Vorschub leisten? Diese Frage zu stellen, heißt nicht, die betroffenen Historiker
einer solchen Koalition zu bezichtigen, vielmehr muß sie sich dem Zeitungsleser einfach aufdrängen. Eine politische
Meinung zu vertreten, ist auch für den Historiker selbstverständlich, er sollte jedoch nicht versuchen, sie unter dem
Deckmantel historischer Objektivität zu verkaufen. 'Linke' Historiker (z.B. Geiss, Wehler, Mommsen) haben
interessanterweise viel weniger Berührungsängste, sich für politische Bewegungen oder Parteien zu engagieren, als
ihre konservativen Kollegen.
4. Zur Identifikation70 und Sinn-Stiftung in der Geschichtswissenschaft:
Problematisch erscheint die Identifikation bei Nolte (Bedrohungsängste Hitlers) und Hillgruber (Ostdeutsche und
Ostheer), da weder ihre Notwendigkeit noch ihr Sinn und Nutzen erkennbar sind. Sollte Habermas (siehe Anmerkung
9) recht haben, entlarvte diese als notwendig vorgegebene wissenschaftliche Methode der Historisten ihre eigene
Denkungsart.
66

Nolte, "Historikerstreit", S. 18 und 42; Fest, ebenda, S. 112; Hillgruber, ebenda, S. 233f und 348.

67

Fest, "Historikerstreit", S. 100: "Aber richtig ist auch, daß die Öffentlichkeit, allen Ermunterungen von politischer Seite zum Trotz, aus dem
Schatten, den Hitler und die unter ihm verübten Verbrechen geworfen haben, noch lange nicht heraus ist, und unvermeidlicherweise fällt er nach
wie vor über alle ernsthafteren Versuche historischer Erörterung und Analyse."
68

Hillgruber, "Historikerstreit", S. 345f. Er bezieht sich dabei auf einen Ansatz M. Broszats (in: Derselbe, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit
unserer Geschichte, München 1988, S. 266-281). 'Historisieren' ist jedoch doppeldeutig: zum einen heißt es 'historisch [historia = Kenntnis;
Geschichtsforschung] werden/machen', also 'bekannt werden/kundig machen' - zum anderen bedeutet es 'zur Geschichte werden/machen', d.h.
'vergehen/resümieren, abschließen'. Das eine betont die Forschung, das andere den Schlußstrich. S. Friedländer, Überlegungen zur Historisierung
des Nationalsozialismus, in: Freibeuter 36 (1988), S. 33-52, vermutet dahinter vier Ziele: die methodische Gleichbehandlung, eine differenzierende
Komplexität, die Relativierung in der Kontinuität und die schonungslose Enttabuisierung. So verstanden fügt sich der Begriff 'Historisierung' nicht
in das Feld von 'Normalisierung' u.ä., wie sie Nolte praktiziert.
69

Als ob gerade dieser Personenkreis in der Nachkriegszeit unter seiner Mitverantwortung im 3. Reich besonders gelitten hätte! L. Niegel (CSUMdB) schreibt: "Den Deutschen, denen sowohl die westlichen Alliierten als auch Moskau die Identität als Volk gestohlen [!] haben, was nach der
totalen Kapitulation unnötig war, ist es nicht zuzumuten, ständig an die Zeit von 1933 bis 1945 erinnert zu werden." (Gill/Steffani (Hg.), Eine Rede
und ihre Wirkung, Berlin 1986, S. 160f) Für ihn und - wie er meint - die Mehrheit des deutschen Volkes war der 8. Mai 1945 kein Tag der
Befreiung. (Ähnlich auch Hillgruber, Zweierlei Untergang, S. 24: "'Befreiung' umschreibt nicht die Realität des Frühjahrs 1945.") Es ist zu
befürchten, daß Herr Niegel unter Befreiung nur den Sieg der Wehrmacht an der Seite des Westens über Hitler und Stalin verstanden hätte.
70

Auch bei diesem Begriff herrscht eine babylonische Sprachverwirrung: einerseits kann 'Identifikation' als "Übernahme der Motive, Eigenschaften
eines anderen in das eigene Ich " (DUDEN, Band 5, Fremdwörterbuch, Mannheim 1974) gedeutet werden (so bei Hillgruber und Nolte),
andererseits verstehen Stürmer und Nipperdey darunter eher das Stiften einer "als 'Selbst' erlebte[n] innere[n] Einheit" (DUDEN 5). Beide Arten des
Sprachgebrauchs entstammen der psychologischen Terminologie, während 'Identität' doch ursprünglich nur Gleichheit oder Übereinstimmung
meint: "A ist identisch mit sich selbst, wenn es in den verschiedensten Sachlagen und Umständen immer dasselbe bleibt, so daß es als dasselbe
identifiziert werden kann." (Phil. Wörterbuch) Dies Gleichbleibende begreift H. Lübbe als Geschichte. "Identität ist das, was als - zutreffende Antwort auf die Frage erteilt wird, wer wir sind. Nur in Fällen, in denen ein Dritter bereits von uns weiß, aber noch nicht weiß, daß wir es sind, von
dem er weiß, pflegt ihm gegenüber die Mitteilung unseres Namens zur Beantwortung der Frage, wer wir sind, zu genügen. Sonst sind zusätzliche
Auskünfte nötig [...] In ihrem Ensemble bilden sie, wie man unschwer erkennt, stets eine Geschichte. Diese Geschichte macht unsere Identität aus
und über sie werden wir identifiziert." (Lübbe, Praxis der Philosophie. Praktische Philosophie. Geschichtstheorie, Stuttgart 1978, S. 99)

14

Andererseits müssen die Fragen nach Motiven, Psychologie und menschlichen Tragödien berechtigt bleiben, deshalb
schlägt Habermas eine gegenseitige Kritik von hermeneutischen und sozial wissenschaftlichen Methoden zur
Vermeidung des objektivistischen Scheins vor. Doch eben die Benutzung kritischer sozialwissenschaftlicher
Ergebnisse vermeidet Nolte, der lieber spekuliert. Bei Hillgruber muß es bestürzen, wenn die Ereignisse des Winters
1944/45 unhistorisch von der Anfangszeit des Nationalsozialismus getrennt werden. Wie kann sich ein
bundesdeutscher Historiker 1986 mit den Brandstiftern (NS-Hoheitsträgern) und Mitläufern (Wehrmachtsoffizieren)
identifizieren, deren Willfährigkeit in dem verbrecherischen Krieg doch erst jenes schreckliche Flüchtlingselend
verursacht hat. "Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen."71
Dazugehörend und doch getrennt davon versuchen sich M. Stürmer und Nipperdey an einem Programm
innerweltlicher Sinnstiftung72 (also an einem Religionsersatz) durch Geschichte, auch wenn ersterer dies später
bestreitet73. Daß sich eine so instrumentalisierte, erstarrte Geschichte der Mythenbildung entziehen kann, muß
bezweifelt werden.
Doch kann auch Habermas schwerlich das berechtigte bundesrepublikanische Bedürfnis nach Sinnstiftung bestreiten74,
noch die Möglichkeit oder Notwendigkeit, Identität durch Geschichte zu gewinnen. Kann eine Gesellschaft sich nach
außen abgrenzen und nach innen konsistent definieren ohne die kritische Rekonstruktion ihrer Traditionen? Wäre es
verwerflich, dies im offenen Dialog der Wissenschaftler zu versuchen?
Die eigentliche Frage lautet also: ist das Geschichtsbild, das Stürmer und Hillgruber75 vorschwebt, konsensfähig, oder
dient es nur zur Legitimation des Status quo?

71

R.v. Weizsäcker, Rede zum 8. Mai 1985.

72

Stürmer, "Historikerstreit", S. 36: "Beides bestimmt die neue Suche nach der alten Geschichte: Orientierungsverlust und Identitätssuche sind
Geschwister. Wer aber meint, daß alles dies auf Politik und Zukunft keine Wirkung habe, der ignoriert, daß in geschichtslosem Land die Zukunft
gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet." Nipperdey, ebenda, S. 217.
73

Stürmer, "Historikerstreit", S. 98.

74

Habermas, "Historikerstreit", S. 75.

75

Hillgruber, "Historikerstreit", S. 240f: "Vor diesem Hintergrund [der DDR-Historiographie] ist es meines Erachtens sinnvoll, ja notwendig, das
Gegenbild - wissenschaftlich fundiert - zu entwerfen, die deutsche Geschichte (im Rahmen der europäischen Geschichte) als eine Entwicklung
darzustellen, die auf die freiheitlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik hingelaufen ist, auf ein Gesamtdeutschland auf der Basis des
Selbstbestimmungsrechts, das es eines Tages zur Geltung zu bringen heißt. Das erscheint mir eine nicht nur historische, sondern auch politisch
notwendige Perspektive."

15

V. Ernst Noltes "Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945"76 als Quelle
Nachdem ich meine Ansichten zur Geschichte als Wissenschaft allgemein und zum 'Historikerstreit' im speziellen
dargelegt habe, möchte ich den Versuch wagen, das Analysemodell der Spurensicherung an einer Monographie Ernst
Noltes zu erproben. Da er meines Erachtens (im Gegensatz zur Ansicht Imanuel Geiss') im Zentrum77 des Streits78
stand, möchte ich sein Buch "Der europäische Bürgerkrieg" zum Untersuchungsobjekt machen. Mir geht es dabei
nicht allein um eine inhaltliche Kritik des Werkes, sondern vielmehr um die ideologiekritische Analyse der 'formalen'
Aspekte.
Ich suche nach Spuren eines vorläufig als 'revisionistisch' zu bezeichnenden Geschichtsbildes, das sich allerdings als
objektive Wissenschaft ausgibt. Inwiefern Nolte dafür typisch ist, ließe sich erst im Vergleich mit anderen Autoren
(wie z.B. Nipperdey, Hillgruber, Fest oder Hildebrand) erschließen.79 Ich betrachte also den "Europäischen
Bürgerkrieg" weniger als Darstellung denn als Quelle, dessen Intention und Rezeption vor allem untersucht werden
sollen.80 Meine Leitfragen lauten folglich:
1.) Wie ist der Autor anhand des Textes sozial einzuordnen?
2.) Welchen politischen und wissenschaftlichen Standpunkt vertritt er in seinem Buch?
3.) Welche Perspektive wählt er darin?
4.) Welche 'Ideologiekeime'81 seines Umfeldes hat er integriert?
5.) Welche Absichten verfolgt er mit seinem Werk?
6.) Welche Wirkungen hat es hervorgerufen oder können noch daraus hervorgehen?
Bevor ich mit der detaillierten Analyse des Werkes beginne, möchte ich zunächst meine Indizien-Methode an einem
typischen Beispiel demonstrieren. Ich wähle dazu das zentrale Thema des Buches und des Historikerstreites:
'Genozide und ihre Vergleichbarkeit'.
Im Kapitel V.4 "Genozide und 'Endlösung der Judenfrage'" findet sich nach einer längeren Darlegung der
Bedeutungen und Ausprägungen von Genoziden in der Geschichte der folgende Satz:

76

E. Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/Main, Berlin 1987.

77

Nolte, Bürgerkrieg, S. 553, Anm. 13: "In diesen Zusammenhang gehört der sogenannte Historikerstreit. Als erster Anfang davon ist mein 1980 in
München gehaltener, im gleichen Jahr von der FAZ gekürzt publizierter und vollständig erst 1985 auf englisch erschienener Vortrag anzusehen."
78

"[...] von dem gesagt werden kann, daß er in seinem emotionalsten Teil aus der Arbeit an dem vorliegenden Buch hervorgegangen ist." (Nolte,
Bürgerkrieg, S. 1.)
79

Einen solchen ersten Versuch hat Hans-Ulrich Wehler in seinem 'polemischen Essay' "Entsorgung der deutschen Vergangenheit?" unternommen.
Allerdings konnte er darin noch nicht Noltes Bürgerkriegsbuch auswerten.
80

Äußerlich betrachtet ähnelt meine Methode dem 'phänomenologischen' Ansatz Noltes in seinem Werk "Der Faschismus in seiner Epoche",
München 1990, 7. Auflage, S. 53: "In einer letzten Einschränkung kann der Terminus dann auf jene Erscheinungen begrenzt werden, deren
sprachliche Verlautbarung ein unabdingbares Moment epochen- (oder auch zeitalter-)bestimmender Wirkung ist." Inwieweit Noltes Buch eine
solche Wirkung hat oder haben kann, wird sich erweisen. "Phänomenologie hieße dann: Verständnis dieser Phänomene, wie sie sich von sich aus
darstellen." (Ebenda.) Tatsächlich habe ich aber in meinen einleitenden Bemerkungen gezeigt, daß dieser idealistisch-historistische Ansatz
fehlschlagen muß. Mithin muß die Darstellung der Gedanken Noltes "[...] so ausführlich erfolgen, den Gegenstand so reichlich selbst zu Wort
kommen lassen, daß jeder Verdacht ausgeschaltet wird, ein vorgefaßtes Schema solle durch herausgegriffene einzelne Zitate bloß bekräftigt
werden." (Ebenda, S. 55.)
81

"Es wären also nur diejenigen sozialen Gebilde Phänomene zu nennen, die eine 'Ideologie' haben und für die dieses Selbstverständnis (neben
anderen Faktoren) konstitutiv ist." (Nolte, Faschismus, S. 53.)

16

"Der Krieg gegen Polen begann mit einem tendenziellen Genozid auf polnischer Seite, nämlich dem sogenannten
'Bromberger Blutsonntag', der Niedermetzelung von einigen tausend Staatsbürgern deutscher Herkunft durch
aufgebrachte Polen."82
Da Nolte sehr auf seine Wortwahl achtet83, möchte ich mich mit dem Ausdruck 'tendenzieller Genozid' näher
beschäftigen. 'Tendenziell' meint laut DUDEN 5, Fremdwörterbuch, "der Tendenz nach", und 'Tendenz' heißt nichts
anderes als "Hang, Neigung, Strömung; Absicht, Zug, Richtung; Grundstimmung". Oberflächlich betrachtet vergleicht
Nolte in diesem Zitat keineswegs die antideutschen Pogrome in Polen mit dem von Deutschen begangenen
Völkermord an den Juden. Das [scheinbar] einschränkende Wort 'tendenziell' schwächt aber nicht etwa das Ausmaß
der polnischen Greueltaten84 ab. Vielmehr bekräftigt es nur den einen Unterschied, daß nämlich die Deutschen nicht
anders handelten als die Polen, die allerdings von jenen an ihrer Neigung zum Völkermord gehindert worden seien.85
Der Angriff auf Polen (wie der Tatbestand wohl besser in Noltes Zitat bezeichnet werden müßte) erhält damit in der
Wortwahl eine Rechtfertigung, die Nolte in den folgenden Sätzen natürlich sofort bestreitet86:
"Und dennoch gehören Hitlers Genozide in eine andere Kategorie."87
Inwieweit die britischen Bomberangriffe auf deutsche Städte, die Deportation der Wolgadeutschen nach Sibirien und
die Vertreibung der Ostdeutschen bei Kriegsende mit der Vokabel 'Genozid'88 belegt werden können, wenn selbst
Nolte sie in eine andere Kategorie fassen will, bleibt sein Geheimnis.
Der 'revisionistische' Standpunkt - so meine vorläufige Arbeitshypothese - ist charakterisiert durch diesen Widerspruch
zwischen äußerer Erscheinung und innerer Bedeutung. Während der 'common sense' die moralische Entrüstung über
die NS-Taten und die klare Distanzierung von ihnen verlangt, will sich eigentlich der Wunsch nach Relativierung und
Apologie ausdrücken. Es kommt zur paradoxen Reaktion auf den 'double bind'89, einer für Kinder in kommunikativ
gestörten Familien typischen Schizophrenie: das schwache Ich unterwirft sich der väterlichen Autorität (Staat) und
rebelliert doch gleichzeitig gegen die aufgezwungene Moral.90
82

Nolte, Bürgerkrieg, S. 502f.

83

Vgl. seine Anmerkungen zur Wahl des Buchtitels in der Einleitung.

84

Zur Einordnung vgl. Chr. Jansen/A. Weckbecker, Eine Miliz im 'Weltanschauungskrieg': der 'Volksdeutsche Selbstschutz' in Polen 1939/40, in:
Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, hg. v. W. Michalka, München 1989, S. 484.
85

Nolte, Bürgerkrieg, S. 503: "Ob die deutsche Minderheit überlebt hätte, wenn der Krieg länger als drei Wochen gedauert hätte, muß bezweifelt
werden."
86

"Die Angriffe der Sturzkampfbomber auf Warschau und andere Städte und die daraus resultierenden Verluste der Zivilbevölkerung waren
indessen keine Antwort, sondern von vornherein im Kriegsplan enthalten und nach Guernica und Barcelona die erste, freilich immer noch
unvollständige Realisierung genozidaler Tendenzen in der modernen Kriegsführung." (Nolte, Bürgerkrieg, S. 503.)
87

Nolte, Bürgerkrieg, S. 504.

88

DUDEN 5, Fremdwörterbuch, Mannheim 1974: "Mord an nationalen, rassischen oder religiösen Gruppen" im Sinne von Völkermord (§ 220a
StGB).
89

Vgl. R. Winkel, Pädagogische Psychiatrie für Eltern, Lehrer und Erzieher, Frankfurt 1977, S. 237ff: "Eine spezielle Form gestörter
Kommunikation stellt die sog. Double-bind-Beziehung dar, die aus einer seltsamen Konfusion mehrerer Grundaxiome (bes. der des Inhalts und der
Beziehung) besteht." In Anlehnung an G. Bateson läßt sich die Situation folgendermaßen beschreiben: "1. Das Individuum ist in eine intensive
Beziehung verstrickt; [...] 2. Das Individuum ist in einer Situation gefangen, in der die andere Person in der Beziehung zwei Arten von Botschaft
ausdrückt, von denen die eine die andere aufhebt. 3. Und das Individuum ist nicht in der Lage, sich mit den geäußerten Botschaften kritisch
auseinanderzusetzen, [...]." (Ebenda, S. 240f.)
90

Die Charaktertypologie Kretschmers schreibt die schizophrene Psychose dem leptosom-intellektuellen Temperament zu (Winkel, Pädagogische
Psychiatrie, S. 70f.) "Das schizothyme Temperament 'ist in der Abspaltung der Innenwelt von der Außenwelt, in der Neigung zur Ausbildung einer
innerlichen wirklichkeitsfremden Ideenwelt sowie in der Neigung zum gleichgültigen oder empfindsamen Sichzurückziehen von den Mitmenschen
zu sehen'." (Ebenda, S. 71.) "Eine überzeugende Theorie legte R.D. Laing (1972) vor, der die schizophrenen Symptome als verzweifelte
Abwehrmaßnahmen eines ICH begreift, daß aufgrund einer ontologischen Unsicherheit abnormen Angstzuständen ausgesetzt ist." (Ebenda, S.
202.)

17

1. Soziale und ideologische Einordnung des Autors
Ernst Nolte (geboren 1923 in Witten/Ruhr) entstammt einem Lehrerhaushalt. Aufgewachsen in Hattingen, studierte er
bis 1945 Deutsch, Griechisch und Philosophie in Münster, Berlin und Freiburg (bei Heidegger). Danach unterrichtete
der Altphilologe bis 1964 alte Sprachen an Gymnasien in Paderborn, Brühl, Neuss und Bad Godesberg. Während
seines Schuldienstes promovierte er 1952 über "Selbstentfremdung und Dialektik im Deutschen Idealismus und bei
Marx" und habilitierte sich 1964 an der Universität Köln, nachdem er 1963 mit seinem Werk "Der Faschismus in
seiner Epoche" Furore gemacht hatte. Von 1965 bis 1973 lehrte er Neuere Geschichte an der Universität Marburg,
danach an der FU Berlin. Er war Gründungsmitglied des Bundes "Freiheit der Wissenschaft".91
Dieser kurze Auszug aus dem Munzinger-Archiv92 weist Nolte als Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums aus.
Inwieweit er sich ideologisch mit der national-konservativen Oberschicht des Militärs identifiziert, soll das
"Schulterklappen-Stereotyp" belegen. Es läßt sich an mindestens fünf Stellen nachweisen93, die oberflächlich betrachtet
den Autoritätsverlust der Offiziere während der Revolutionen 1917 bzw. 1918 betreffen. Tatsächlich verbindet das
Stereotyp jedoch drei verschiedene Gruppen: die Nationalsozialisten, das deutsche bzw. russische Offizierskorps und
Stalin.
Zunächst taucht es im Zusammenhang mit der Forderung der Nationalsozialisten auf, den Marxismus zu vernichten:
"Aber diese Forderung ist nicht selten verknüpft mit der Erinnerung an die Rucksackspartakisten von 1918, und wenn
Hermann Göring am 3. März [1933] verkündete, hier habe er nur zu vernichten und auszurotten, so wandte er sich
wenige Tage später seinen Gegnern mit der leidenschaftlichen Anklage zu: 'Als wir vor 14 Jahren von der Front
zurückkamen, hat man unsere Achselstücke und Ehrenzeichen, hat man uns in den Dreck getreten, hat man die Fahnen
verbrannt, die siegreich einer Welt trotzten. Ihr habt damals unser Innerstes mißhandelt, ihr habt uns das Herz
zertreten, weil ihr Deutschland zertreten habt.' Den Kommunisten gegenüber war nun in der Tat seine Frage berechtigt
[!]: 'Was hätte man getan, wenn man an unserer Stelle die Macht erobert hätte? Man hätte uns ohne viel Überlegen
einen Kopf kürzer gemacht.'"94
Für Göring sind die Schulterstücke also nicht einfache Symbole, vielmehr setzt er sich selbst ("Herz") durch sie mit
der Nation ("Deutschland") gleich. Indem Nolte Görings anschließende Frage berechtigt findet, übernimmt er auch
dessen Verkehrung von Zeichen und Bedeutung. Genauso gut hätte man die Dolchstoßlegende wörtlich nehmen
können.
Für die Offiziere repräsentierten die Schulterklappen Autorität und Kommandogewalt 95, das Gute96 schlechthin. Nolte
bezieht diese Erfahrung des Autoritätsverlustes auf den Aufstieg der Nationalsozialisten:

91

Vgl. Frank Niess, Die scheinheilige Allianz oder: Gegenreform nach Maß/Zur Selbstdarstellung und Praxis des "Bundes Freiheit der
Wissenschaft", in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, Reinbek 1974, S. 101: "Das Schreckgespenst [man
bedenke den von Nolte gewünschten Buchtitel "Schreckbild und Vorbild"!] eines brain drain, der gerade die qualifiziertesten Wissenschaftler erfaßt,
die den Exodus an eine geordnete deutsche oder ausländische Universität der erniedrigenden Unterwerfung unter das Diktat kommunistischer
Hochschulkader vorziehen, zeichnet sich seit geraumer Zeit in den Publikationen des BFW ab."
92

Internationales Biographisches Archiv 18/88, K 018444-1 No-ME 1 und 2.

93

Nolte, Bürgerkrieg, S. 35f, 36f, 47, 84 und 520.

94

Nolte, Bürgerkrieg, S. 35f.

95

Nolte, S. 84: "Auch gegen Ende Dezember 1918 war das äußere Bild in Deutschland noch ganz ähnlich wie in Rußland während der Monate
nach der Februarrevolution: Die Disziplin des Heeres löste sich großenteils auf, überall hatten sich Soldatenräte gebildet, die Offiziere hatten die
unbestrittene Kommandogewalt verloren, und häufig wurden ihnen die Achselklappen heruntergerissen, [...]"
96

Nolte, Bürgerkrieg, S. 47: "Über die Lage in Kronstadt erhielt die Armeeführung bereits im März [1917] die Nachricht, 90% der Offiziere seien
verhaftet worden und ständen unter Bewachung, freie Offiziere aber könnten nicht mit Schulterstücken herumgehen, da diese ihnen sofort 'von den
schlechtesten Elementen der Mannschaft' abgerissen würden."

18

"So wird in den Äußerungen führender Nationalsozialisten immer wieder deutlich, daß ihren Empfindungen und
Handlungen eine Urerfahrung, eine Urbeängstigung, ein Urhaß zugrunde lag: die Erfahrung von Offizieren und auch
von Unteroffizieren angesichts der Revolution von 1918, als sie plötzlich ihre Autorität verloren, als kampfkräftige
Truppenkörper von heute auf morgen zu delieberierenden Haufen wurden, als ihnen die Schulterstücke
heruntergerissen wurden, als man ihnen ins Gesicht spuckte, als sie 'Kriegsverbrecher' und 'Schweine' genannt
wurden."97
Noltes These von dem [angeblichen] Entsetzen der Nationalsozialisten vor den Bolschewisten ist sowohl subjektiv (im
Empfinden der Nazis) als auch objektiv (im Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung) falsch. Hitler hatte keine Angst vor
'slawischen Untermenschen',98 sondern benutzte die Furcht des Bürgertums vor der aggressiven Ideologie und
Rhetorik der Kommunisten.99 Warum hatte aber das gleiche Bürgertum keine Berührungsängste vor den ebenso
gewalttätigen Nazis, die auch untereinander (siehe "Röhm- Putsch"100) brutal zuschlugen?
Die Sowjetunion war schon aufgrund der innenpolitischen Instabilität (Bürgerkrieg, Kulakenvernichtung,
Hungersnöte, "Säuberungen")101, ihrer militärischen Schwächung (Liquidation des Offizierskorps102) und der
außenpolitischen Isolation keine wirkliche Bedrohung des Deutschen Reiches. Ebenso blieben USPD bzw. KPD
während der zwanziger Jahre schwächer als die radikale Rechte,103 u.a. auch weil linker Terror strenger verfolgt wurde
als rechter.104
97

Nolte, Bürgerkrieg, S. 36f.

98

Hitler, Mein Kampf, S. 743: "Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch
das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die
Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird." (Zitiert nach: R. Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1980, S.
116)
99

Nolte, Bürgerkrieg, S. 122: "Das antibolschewistische Motiv war das am meisten europäische unter Hitlers Motiven; er teilte es mit nahezu allen
bürgerlichen Europäern und Amerikanern, und dabei muß der Begriff bürgerlich in dem weiten Sinne gefaßt werden, der die Sozialdemokraten oder
Rechtssozialisten einschließt."
100

Nolte, Bürgerkrieg, S. 233: "Im deutschen Volk hatten Hitlers Maßnahmen gegen die SA überraschend viel Beifall gefunden, offenbar deshalb,
weil man in der Parteiarmee eine bedrohliche und revolutionäre Kraft erblickte."
101

Nolte, Bürgerkrieg, S. 141: "Aber anders als in England und in Deutschland zog keine abgrenzbare Klasse von Menschen sichtbare Vorteile aus
der Not der anderen: Der sowieso schon erbärmlich niedrige Lebensstandard der Gesamtbevölkerung sank zwischen 1928 und 1932 um ein volles
Drittel, [...]"
102

Nolte, Bürgerkrieg, S. 268:" Von fünf Marschällen überlebten nur zwei, von vierzehn Armeebefehlshabern ebenfalls zwei, von acht Admiralen
blieb keiner am Leben, von 67 Korpskommandanten wurden 60 erschossen und von 199 Divisionskommandanten 136."
103

Als Indiz mögen die Reichstagswahlen für Deutschnationale bzw. Nationalsozialisten und USPD bzw. KPD zwischen 1920 und 1932 dienen:
(Prozentanteile der gültigen Stimmen)
6.6.1920 4.5.1924 7.12.1924 20.5.1928 14.9.1930 31.7.1932 6.11.1932
NSDAP
0.0
6.5
3.0
2.6
18.3
37.4
33.1
DNVP
15.1
19.5
20.5
14.2
7.0
5.9
8.9
USPD
17.9
0.8
0.3
0.1
0.0
0.0
0.0
KPD
2.1
12.6
9.0
10.6
13.1
14.5
16.9
(Angaben nach: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Auflage, München 1980, dtv-Band 4222, S. 392f)
104

Chr. Graf v. Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990, Reinbek 1990, S. 136f: "In den vier Jahren von 1918 bis 1922 wurden
22 Morde von 'links' nachgewiesen, und es wurden 17 Täter hart verurteilt, zehn zum Tode. Bei 354 Morden von 'rechts' gab es dagegen nur eine
einzige strenge Bestrafung, kein Todesurteil. Die durchschnittliche Freiheitsstrafe betrug fünfzehn Jahre für die 'linken', vier Monate für die 'rechten'
Täter." v. Krockow beruft sich hier auf Angaben Gumbels, zu denen Nolte, Bürgerkrieg, S. 147 schreibt: "Sicherlich waren die beiden Prozesse
[gegen Hitler bzw. gegen die sog. kommunistische Tscheka- Gruppe] auch in der Art, wie sie geführt wurden, bemerkenswerte Beispiele für jene
Unterschiedlichkeit des Verhaltens gegenüber rechts und links, die damals besonders von Emil Julius Gumbel und heute fast allgemein
angeprangert wird. Aber es müßte doch wohl zunächst gefragt werden, ob jemals in der Weltgeschichte ein angegriffenes System seine Feinde und
diejenigen, die ihm helfen wollten, nach den gleichen Maßstäben behandelt hat und ob man nicht den Kommunisten die Ehre [!] raubt, die sie
beanspruchen dürfen, wenn man leugnet, daß der gewaltsame Sturz des kapitalistischen, d.h. europäisch-industriellen Systems ein weitaus
gravierenderes und revolutionäreres Ereignis sein mußte als die Errichtung einer antiparlamentarischen Diktatur zur Abwehr dieses Angriffs." Für
Nolte macht es also einen Unterschied, ob der gesamte Kapitalismus bedroht ist oder nur die parlamentarische Demokratie zerstört wird. Zynischer
läßt sich angesichts der tatsächlichen Verbrechen in ganz Europa die Gefahr nicht verdrehen.

19

Angst und Antibolschewismus erklären weder den 'Kampf gegen Versailles' noch die Nürnberger Rassegesetze, nicht
die Annexionen von Österreich und der Tschechoslowakei, die Ausschaltung der bürgerlichen und militärischen
Opposition, den 'totalen Krieg' oder die Vernichtungslager. Nolte bleibt statt dessen bei seinen Spekulationen um die
Furcht der Offiziere vor dem Autoritätsverlust. Er fällt wie das damalige Bürgertum erneut auf Hitlers Propaganda
herein.
Der identifikatorische Zirkel von Hitler über Göring zu den Wehrmachtsoffizieren schließt sich mit einer Bemerkung
über die sowjetische Armee:
"Mit den nun [1943 in der Sowjetunion] wieder eingeführten breiten Schulterstücken der Zarenarmee wurde die
Entwicklung bestätigt und gefördert, die eine ausgeprägte Klassentrennung zwischen Offizieren und Mannschaften
implizierte, obwohl der einfachste Soldat nach wie vor den höchsten Offizier mit 'Genosse General' anredete."105
Erst unter Stalin symbolisieren also die Epauletten eine Klassenschranke, die jedoch durch das emanzipierte 'Genosse'
gefährdet scheint. Sollte folglich die 'Urangst' der Offiziere um Göring und der bürgerlichen NSDAP-Wähler von
dieser überfälligen Deklassierung in der Novemberrevolution herrühren?
Wie stets bemüht sich Nolte auch hier, den Bezug zum 'Schreck- und Vorbild' Sowjetunion herzustellen. Auf den
naheliegenden Gedanken kommt er dabei nicht: daß nämlich die Schulterstücke der deutschen Armee viel eher einen
vormodernen Klassenunterschied bezeichneten, den eine demokratische Gesellschaft längst überwunden hätte.
Ohne Zweifel ist Nolte ein konservativer Mensch, der mit den konservativen Politikern hadert, 106 stellt er doch
bedauernd fest:
"Die Entwicklung zur permissive society, zum höchst komplexen und differenzierten Wohlfahrtsstaat, ist nahezu
überall im Westen weitergegangen, ohne ernsthafte Reaktionen zu erzeugen. Die Preisgabe der Verbündeten in
Südvietnam im Jahre 1975 und die ängstliche Zurückhaltung der USA, als große afrikanische Staaten von
marxistischen Befreiungsbewegungen im Kampf gegen
westliche Befreiungsbewegungen erobert wurden, machte
wie nie zuvor die Schwäche des Imperialismus deutlich, und die konservative Welle, die Ronald Reagan ins Amt des
Präsidenten brachte, setzte sich lediglich zum Ziel, ein drohendes weltpolitisches Ungleichgewicht zu verhindern."107
Nolte erweist sich in dem Zitat als strenger Antikommunist und Kritiker einer freizügigen Wohlfahrtsgesellschaft. Ob
er sich dabei auch als Verfechter imperialistischer Kriege sieht, muß allerdings offen bleiben. Inwieweit seine
politischen Ansichten mit der Themenauswahl und Darstellung korrelieren, soll an einem anderen Beispiel erläutert
werden.
2. Noltes Standpunkt und Erkenntnisinteresse
Zu diesem Zweck benötige ich eine zusammenhängende Textprobe, deren Wortwahl, Satzbau, Stilfiguren, Themen
und Aufbau untersucht werden sollen. Es muß ein längeres Stück sein, das repräsentativ für das Gesamtwerk stehen
kann. Dabei soll die Sprache nicht zu sehr durch das Thema bestimmt sein, am besten bezieht es sich auf Noltes
Person oder Arbeit. Da zentrale Teile des Buches möglicherweise mehrfach vom Lektorat redigiert worden sind,
wären beiläufige, aber ausführliche Anmerkungen für unsere Ziele angemessen.
Die gesuchte Stelle findet sich in den Fußnoten 1 bis 3 zum Vorwort auf den Seiten 551f. In dieser Passage
dominieren bestimmte Artikel bzw. Relativpronomen (der, die) und beiordnende bzw. begründende Konjunktionen
(und, da). Die häufigsten Substantive sind Bolschewismus, Sowjetunion und Nationalsozialismus.
105

Nolte, Bürgerkrieg, S. 520.

106

Nolte, Bürgerkrieg, S. 15: "In der Bundesrepublik Deutschland löste sich wenig später die sozial-liberale Koalition auf, aber die postulierte
'Wende' machte sich hauptsächlch dadurch bemerkbar, daß eine neue Partei mehr und mehr hervortrat und einflußreich wurde, die dem technischen
Fortschritt überaus kritisch gegenüber stand und nicht bloß formale Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus aufwies, dem sie sich gleichwohl in
den Hauptpunkten aufs schroffste entgegensetzte."
107

Nolte, Bürgerkrieg, S. 14.

20

Die Sätze haben durchschnittlich 29 Wörter, es überwiegen nebengeordnete Hauptsätze, häufig Passivkonstruktionen.
Die Nebensätze sind meist erläuternde Relativ- und Objektsätze (daß). Nolte verzichtet weitgehend auf besondere
Fachausdrücke oder Fremdworte (Ausnahmen: Insurrektionsdrohung, Präfiguration, Trilogie, Tetralogie,
Chronologie, Hauptprämisse, Kampagne, Terminus, a fortiori). Einige Besonderheiten (in Bälde, auf das heftigste,
dem Buche) lassen einen leicht antiquierten Sprachschatz vermuten.
Trotz ihrer Länge sind Noltes Sätze übersichtlich und klar gegliedert. Der vorgebildete und informierte Leser dürfte
keine besonderen Verständnisschwierigkeiten bei der Lektüre haben. Ohne Zweifel handelt es sich eher um ein
populärwissenschaftliches Buch, das sich vornehmlich an das breite Publikum wendet. Dabei verzichtet Nolte weder
auf einen umfangreichen Anmerkungsapparat (50 Seiten) noch auf eine ausführliche Darstellung (550 Seiten).
Daß Noltes Untersuchungsschwerpunkt der [Anti]Bolschewismus ist, läßt sich an zwei weiteren Indizien belegen: 1.
die für die Zeit von 1917 bis 1933 wichtigen Kapitel I ("Schlußpunkt und Vorspiel 1933: Die antimarxistische
Machtübernahme in Deutschland") und II ("Rückblick auf die Jahre 1917-1932: Kommunisten, Nationalsozialisten,
Sowjetrußland") weisen ein Übergewicht von circa 80 zu 55 Seiten für die Sowjetunion bzw. KPD gegen
Nationalsozialismus bzw. "3. Reich" auf; 2. finden sich im Sachregister etwa 240 Stellen zu
Bolschewismus/Kommunismus/Sowjetunion, rund 185 zu Faschismus/Nationalsozialismus/"3. Reich", um die 70 zu
Bürgerkrieg bzw. Krieg, 50 zu Antibolschewismus/Antimarxismus, circa 45 zu Antisemitismus und Juden, 28 zu
Hitler und 12 zu Stalin.
Dieser äußere Eindruck bestätigt sich in Noltes einleitenden Überlegungen zur richtigen Wahl der Perspektive, unter
der der Nationalsozialismus betrachtet werden müsse. Den ältesten Ansatz, die NS-Herrschaft als "ein Stadium der
deutschen Geschichte"108 zu sehen, verwirft er als "teutonozentrisch". Ebenso lehnt er es ab, den Nationalsozialismus
primär soziologisch durch den Kapitalismus zu bestimmen.109 Auch Faschismus- und Totalismus-Konzeptionen können
laut Nolte den Nationalsozialismus getrennt nicht korrekt erklären.110
"Wenn also die Furcht vor Wiederholungen gegenstandslos ist und volkspädagogische Besorgnisse überflüssig sind,
dann sollte endlich der Schritt getan werden dürfen, mit dem die nationalsozialistische Vergangenheit in ihrem
zentralen Punkte zum Thema gemacht wird, und dieser zentrale Punkt ist weder in verbrecherischen Neigungen noch
in antisemitischen Obsessionen zu suchen. Das Wesentliche am Nationalsozialismus ist sein Verhältnis zum
Marxismus und insbesondere zum Kommunismus in der Gestalt, die dieser durch den Sieg der Bolschewiki in der
russischen Revolution gewonnen hatte."111
Wenn der Antibolschewismus die eigentliche Stoßrichtung des Nationalsozialismus war, ergeben sich jedoch mehrere
Fragen:
a) Warum paktierte Hitler mit seinem Hauptfeind und schonte ihn mehrere Jahre lang, während er die westlichen
Demokratien mit Krieg überzog?
b) Weshalb fand überhaupt der Holocaust gegen die Juden statt, wenn doch der Rassismus nicht die Triebfeder der
Nazis war?
c) Wieso wurden schließlich die Untaten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern verheimlicht, obwohl doch
die Ziele der Nationalsozialisten "gerechtfertigt" waren?
Eine Erklärung für den Rassenwahn der Nationalsozialisten sucht Nolte in deren 'Vor- und Schreckbild', dem
108

Nolte, Bürgerkrieg, S. 10.

109

Nolte, Bürgerkrieg, S. 11.

110

Nolte, Bürgerkrieg, S. 12: "Von einer Theorie, die den Nationalsozialismus als Faschismus versteht, sollte allerdings erst dann die Rede sein,
wenn diese Bewegung nicht bloß als Instrument in den Händen bekannter Kräfte, etwa der Schwerindustrie oder des Finanzkapitals, gesehen wird.
Sie muß also als etwas Neues begriffen werden, das aus historisch neuartigen Tatbeständen hervorgeht oder aus der Reaktion dagegen erwächst:
dem Zusammenbruch der Mittelmächte, der russischen Revolution, der sozialistischen Welle in den meisten Staaten Europas während der Jahre
1919 und 1920." Ebenda, S. 18: "Aber weil der Ansatz der Faschismustheorie bewahrt wird, wird einer der beiden Ideologien die Priorität
zugeschrieben, und die Totalitarismustheorie erhält damit eine historisch-genetische Dimension, die ihr bisher fehlte."
111

Nolte, Bürgerkrieg, S. 15.

21

Klassenmord der Bolschewiki an den Kulaken.112 Für ihn besteht ein "kausaler Nexus"113 zwischen Archipel Gulag und
Auschwitz in der Epoche des "Europäischen Bürgerkriegs 1917-1945"114.
Wenn es sich um einen wirklichen Krieg handelte, wäre der Zeitraum auf die Jahre 1941 bis 1945 zu beschränken.
Wenn sich beide Antagonisten nur staatlich etabliert haben mußten, ließe sich die Epoche auf 1933 bis 1945
eingrenzen. Wenn lediglich eine Bürgerkriegspartei an der Macht sein muß, dauert der Krieg noch an, da die
Sowjetunion weiterhin marxistisch geführt wird. Wenn schließlich nur die Existenz zweier feindlicher Parteien genügt,
können wir das Zeitalter von 1848 (Kommunistisches Manifest) bis zur Gegenwart ausweiten. Man erkennt: weder ist
der Begriff "Europäischer Bürgerkrieg" sinnvoll definiert, 115 noch ist die Epoche zweckmäßig abgegrenzt. Ebenso
willkürlich verfährt Nolte mit der Konstruktion des "kausalen Nexus".
Verkürzt dargestellt benutzt er die folgende Analogie116, um den ursächlichen Zusammenhang herzustellen:
A tötet B: dies bleibt für den Beobachter "rätselhaft und unbegreiflich";
A tötet B, weil B A's Freund getötet hat und A bedroht: dieser "kausale Nexus" ist verstehbar, möglicherweise sogar
verständlich;
nahm A nur an, daß B A's Freund getötet habe, so haben wir einen anderen Charakter des Zusammenhangs;
war B nur ein Freund des Mörders von A's Freund, ist es wieder ein anderer Sachverhalt;
nur wenn A's Freund gar nicht getötet wurde und A sich etwas eingebildet hat oder aus Mordlust handelt, liegt kein
Nexus vor.
"Die Anwendung des Beispiels auf das Verhältnis zwischen Archipel Gulag, dem Kommissarbefehl und Auschwitz ist
leicht [...]"117
Die Analogie ist entweder unsinnig oder aber widerwärtig. A seien die 'die Nazis' und B 'die Juden': wen haben dann
'die Juden' getötet oder bedroht? Der Vergleich kann logisch nur dann einen Sinn machen, wenn zwischen 'den Juden'
[wer immer das sei?] und dem Archipel Gulag eine faktische, nicht allein eine gedanklich-vorgestellte Beziehung
bestand. Da die Nazis nicht aus Mordlust, sondern nüchtern-kühl, diszipliniert und bürokratisch-korrekt töteten, sie
sich jedoch laut Nolte vor den Bolschewiki aus gutem Grund fürchteten, müssen 'die Juden' mit den Bolschewiki
identifiziert werden. Andernfalls ist Noltes Schluß vom kausalen Nexus widersinnig.
112

Nolte, Bürgerkrieg, S. 17: "Die entscheidende Frage ist dann die, weshalb eine vorhersehbare und durch den späteren Geschichtsverlauf im Kern
gerechtfertigte Reaktion einen so überschießenden Charakter angenommen hat, daß sie nicht nur zu dem größten Kriege der Weltgeschichte,
sondern auch zu singulären Massenverbrechen führte. Diese Frage kann vorgreifend und abkürzend so beantwortet werden, daß ein Überschießen
der Grundcharakter jeder Ideologie ist und daß es auch dann und gerade dann unvermeidbar ist, wenn eine Ideologie eine Gegen-Ideologie
hervorruft." Tatsächlich erklärt dies allein weder den 2. Weltkrieg noch Auschwitz, die weder populär waren noch antibolschewistisch zu
rechtfertigen waren. Vgl. auch S. 140f.
113

Nolte, S. 548: "Die Heftigkeit des Widerstandes, den die These hervorruft, der Archipel Gulag sei ursprünglicher als Auschwitz und zwischen
beiden bestehe ein kausaler Nexus, ist letzten Endes nur durch politische Motive zu erklären, die zu politischen Insinuationen Anlaß geben."
114

Nolte, S. 5: "[...] und jedenfalls existierten seit 1922 zwei Parteien, die auf den Bürgerkrieg ausgerichtet waren und die dieser Ausrichtung eine
ideologische Begründung gaben. Beide Parteien hatten einen Staat in Besitz genommen, und beide verfügten in vielen Ländern über Sympathisanten
und Anhänger." Ebenda, S. 7: "Als europäischer Bürgerkrieg kann die Epoche nur dann erscheinen, wenn die beiden Hauptantagonisten in den
Mittelpunkt gestellt werden: der Bolschewismus, der seit 1917 ein Staat war, und der Nationalsozialismus, der 1933 ein Staat wurde."
115

Ein anderes Beispiel irreführender Definitionen ist Noltes Widerstands-Begriff: "Eine Spur anfänglicher Zustimmung und damit ein späterer
Wandel der Einstellung sollte als Begriffsmerkmal von Widerstand gelten, und man braucht nur die zeitgenössischen Aufzeichnungen von Julius
Leber zu lesen, um zu erkennen, daß es in der Kritik an dem dogmatischen Marxismus durchaus gewisse Affinitäten zwischen Sozialdemokraten
und Nationalsozialisten gab." (Nolte, Bürgerkrieg, S. 440) Demnach bemißt sich das Ausmaß des Widerstandes nach der ursprünglichen
Zustimmung. Folgerichtig erwähnt Nolte den sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Widerstand nur am Rande, während die Opposition der
ehemaligen Mitläufer in Partei und Miltär ausführlich gewürdigt wird. Die aktiven Gegner der KPD grenzt er per definitionem vom Widerstand aus.
Nicht die Wirkung, sondern das Wollen zählt für Nolte. Vgl. dazu Broszat, Resistenz und Widerstand: Eine Zwischenbilanz des
Forschungsprojektes 'Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933 - 1945', in: ders., Nach Hitler, München 1988. Interessanterweise zitiert Nolte
diesen Aufsatz von Broszat nicht, der auf die Wirkung des Widerstandes abzielt.
116

Nolte, Bürgerkrieg, S. 547.

117

Nolte, Bürgerkrieg, S. 548.

22

Die Gleichsetzung von Juden und Bolschewiki ist aber weder sachlich haltbar noch von Nolte angestrebt, weil er
gerade dem Anti-Bolschemismus der Nationalsozialisten die Priorität vor dem Anti-Semitismus gibt, sie also bewußt
trennt. Vor den Juden fürchteten sich die Nazis allenfalls in Anbetracht der Folgen ihres Mordens, die
Bedrohungsfurcht entfällt damit ebenso.
Da Nolte jedoch am "kausalen Nexus" festhält, nahmen seiner Meinung nach die Nationalsozialisten aus guten
Gründen an, es habe ein solcher Zusammenhang bzw. eine solche Identität zwischen Juden und Bolschewiki
bestanden. Nolte übernimmt damit die Ideologie des Nationalsozialismus und schilt seine Kritiker dafür, daß sie ihm
darin nicht folgen wollen.
3. Rezeption und Wirkung des Buches
Die Auseinandersetzung um Noltes Werk fand wie die Historikerdebatte vornehmlich in den Feuilletons von
Zeitungen und Zeitschriften statt. Die ausgewerteten Kritiken118 repräsentieren einen verkaufte Auflage von etwa 2,8
Millionen Lesern. Die Auswahl reicht vom linksliberalen "Spiegel" bis zum neokonservativen "Criticon".
Fast alle Rezensenten lehnen das Buch ab; "Das Parlament" beschränkt sich auf eine wohlwollende Inhaltswiedergabe,
und allein die konservative "Welt" ist durchweg positiv gestimmt. Während sich die "Spiegel"-Rezension nur
polemisch119 dem kritischen Urteil der "Zeit" anschließt, zeichnen sich FAZ und "Criticon" durch Sachlichkeit aus.
Die Hauptvorwürfe richten sich beim "Spiegel" und in der liberalen "Zeit" gegen apologetischen Tendenzen, 120
methodische Mängel und Noltes angebliche Inkompetenz. Die konservative FAZ kritisiert das 'unvernünftige'
Vokabular, die Skurrilität und gefährliche Verengung bzw. Einseitigkeit seiner Thesen. 121 "Criticon" bedauert Noltes
Halbherzigkeit bei dem Bemühen um eine Revision der deutschen Geschichte.122
Die Autoren zitieren vor allem aus dem Anfang und dem Schluß des Buches. Ihre Belege entnehmen sie dem Kapitel
V.4 und der Schlußbetrachtung. Diese Passagen behandeln insbesondere die Vergleichbarkeit der NS-Verbrechen mit
anderen Genoziden.123 Während "Zeit", "Spiegel" und FAZ Noltes Relativierungen als unangemessen bezeichnen,
118

Für meine Untersuchung habe ich die folgenden Buchbesprechungen verwendet: A. Mohler, Mißverständnisse um Ernst Nolte, in: Criticon, Nr.
104/1987, S. 267-270. A.-M. de Zayas, Das Rendezvous der großen Diktaturen, in: Die Welt, 20.11.1987. H.A. Winkler, Ein europäischer Bürger
namens Hitler, in: Die Zeit, Nr. 50, 4.12.1987, S. 16f. R. Augstein, Herrn Noltes Umwälzung der Wissenschaft, in: Der Spiegel, Nr. 1/1988, S. 141144. J. Rovan, Zwischen Ideologie und Aufklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.3.1988. H. Müller, Europäischer Bürgerkrieg?, in: Das
Parlament, 25.3.1988.
119

Augstein, S. 143: "Nolte mag ein philosophischer Kopf sein, aber als Historiker ist er schwach auf der Brust." [...] "So spricht ein StammtischStratege, aber kein Historiker. Man muß den künftigen Nolte wohl in der historischen Besenkammer abstellen."
120

Winkler, S. 16: "Es wäre ein leichtes, Dutzende von Titeln aufzuführen, die Nolte schlankweg ignoriert hat, obwohl sie für sein Thema
grundlegend sind." [...] "Schnitzer und Glanzlichter bedeuten indes wenig gegenüber dem, was das Buch zu einem Ärgernis, ja, man muß es
aussprechen, zu einem Skandal macht: seine konsequent durchgehaltene apologetische Perspektive."
121

Rovan: "Seine zahlreichen Verurteilungen der nationalsozialistischen Ungeheuerlichkeiten stehen zu solchen schiefen Formulierungen im
Widerspruch. Das gilt auch für das Wort 'asiatische Tat', das selbst als Zitat, auf die Untaten des Bolschewismus angewendet, eine rassistische
Konnotation mit sich führt." [...] "Nolte ist so fasziniert von dem Zweikampf der totalitären Ideologien, daß sein historisches Weltbild sich
stellenweise auf gefährliche Weise verengt." [...] "Das Buch dient in vielen Teilen zweifellos der Aufklärung. Ob Nolte generell der 'Philosophie des
Lumieres' zugerechnet werden soll, das ist eine Frage, deren Beantwortung er sich und uns weiter schuldet."
122

Mohler, S. 267: "Wie wir die Keilerei auch immer nennen wollen - Tatsache ist, daß sehr viele Deutsche (und sicher nicht die schlechtesten) sich
von diesem [Historiker]Streit eine Lockerung des Würgegriffs einer maßlos gewordenen Vergangenheitsbewältigung an den deutschen Hälsen
erhoffen." Doch nachdem er lobend erwähnt: "Die Verdichtung der Tendenzen zum Völkermord bereits im Ersten Weltkrieg wird jedoch von Nolte
deutlich herausgestellt, und es kommt in der Folge zu einer Kaskade von Feststellungen, die man bisher nur von Außenseiter-Historikern, nicht von
Hochschulprofessoren zu hören bekam."(S. 268), bedauert Mohler: "Im Gegenteil: Ernst Nolte hat die 'Einzigartigkeit' der im deutschen
Hoheitsbereich begangenen Verbrechen zementiert. Und zwar in einer Höhe, in die keine Widerrede mehr hinreicht." (S. 270)
123

Winkler, S. 17: "Noltes Eingeständnis, die Vernichtung der Juden sei 'einzigartig', ist so eingerahmt, daß sich das Urteil am Ende selbst aufhebt.
Nicht diese Behauptung, sondern ihre systematische Relativierung ist die Zielrichtung des Buches."

23

gehen sie "Criticon" nicht weit genug.124
Die Intention eines Autors und die Wirkung seines Buches sind stets zu unterscheiden: zwar distanziert sich Nolte klar
von angeblich apologetischen Tendenzen seiner Schrift, doch werden sie von seinen Lesern (Kritikern wie
Bewunderern) entdeckt und gewürdigt. Sie dürfen nicht einfach als Mißverständnisse abgetan werden, vielmehr stellt
sich zwangsläufig die Frage:
Inwieweit befriedigen Noltes Thesen die Bedürfnisse seiner zahlreichen Leser (4 Auflagen mit 13000 Exemplaren von
Oktober 1987 bis März 1989)?
Mögliche Motive könnten für sie sein:
- die Leugnung der NS-Verbrechen (hierfür ist das Buch jedoch ungeeignet);
- ihre moralische Relativierung (dieser Vorwurf trifft nur bedingt auf Noltes Werk zu);
- die Historisierung des "Dritten Reiches" (dies ist sein erklärtes Ziel);
- die Umwertung und Revision der bisherigen Erkenntnisse (auch das versucht Nolte ausdrücklich);
- die Bestätigung von landläufigen Meinungen und Vorurteilen (zum Teil unvermeidlich);
- sachliche Information und umfassende Aufklärung (dies Ziel verfehlt das Buch nach dem Urteil seiner Kritiker).
Ob der "Europäische Bürgerkrieg" die Deutschen von Schuldgefühlen entlasten kann, wäre noch zu prüfen. Daß es
dieses Bedürfnis gibt, belegen nicht zuletzt die Diskussionen um die Wiedervereinigung, den Golfkrieg und die
Hauptstadtfrage.
Das Werk markiert die Schlußetappe des Historikerstreites, danach verstummte die Debatte in den Massenmedien.
Andere Themen beherrschten nun die Seiten der Feuilletons: die Grundsteinlegung Historischer Museen in Bonn und
Berlin, die 'Fälle' Waldheim und Jenninger,125 der Umbruch in den Ost-West-Beziehungen, das Erstarken des
Nationalismus und Antiamerikanismus, von Antisemitismus und Rassismus in ganz Europa.126
Die Reformen Gorbatschows bzw. die Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg, 127 die zur Auflösung des
Warschauer Paktes und zur deutschen Wiedervereinigung (auch dies eine tabuisierte Formel) führten, brachten
gewohnte Orientierungen durcheinander.128 Sorgen um eine ausreichende Integration der neuen deutschen Großmacht
im demokratischen Westen gemahnten an Noltes Parallelisierung von Deutschland und Rußland. 129 Er nutzte seine
124

Mohler, S. 268: "Man kann es für gewagt halten, sich bei der kritischen Befassung mit den Genociden so ausdrücklich auf den klassischen
Liberalismus zu berufen: von den vom Rezensenten erwähnten westlichen Genociden liefen zwei, der englische und der amerikanische, noch, als
Großbritannien und die USA längst Hochburgen jenes Liberalismus waren."
125

Vgl. R.J. Evans, Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1991, S. 184-189.
"Die Jenninger-Affäre hat also gezeigt, daß an dem, was Nolte und die anderen Konservativen vorgebracht haben, wenigstens etwas wahr ist: In
Deutschland und auch international reagiert die öffentliche Meinung in der Tat häufig überempfindlich auf jedes Ereignis in der Bundesrepublik,
das auf den ersten Blick, wenigstens an der Oberfläche, an ein Wiederaufleben der nationalsozialistischen Vergangenheit denken läßt." (S. 189)
126

Die Deutschen scheinen den US-Amerikanern nicht die Befreiung vom Nationalsozialismus und den Juden nicht Auschwitz verzeihen zu
können. Wie anders wären die hysterischen Reaktionen in Deutschland auf die durch die UN sanktionierten alliierten Angriffe gegen den Irak zur
Befreiung Kuwaits zu verstehen? Die unverhältnismäßig lautstarken Massenproteste gegen das Engagement der USA im Golfkrieg und gegen
Israels Siedlungspolitik in Palästina lassen angesichts des Schweigens zu den irakischen Angriffen auf Kurden und Kuwait und zur Behandlung der
Palästinenser in arabischen Staaten nur diese Vermutung zu.
127

R.J. Evans, Im Schatten Hitlers?, S. 203: "Aus dieser Perspektive des Triumphs gesehen, scheinen die Argumente von Nolte, Stürmer und
Hillgruber eine Bestätigung erfahren zu haben;[...]" "Es gibt viele Gründe, warum das Triumphdenken der Kalten Krieger nicht angebracht ist." (S.
205) Der wichtigste scheint mir dabei zu sein, daß nahezu alle von den Entwicklungen überrascht wurden und keine fertigen Konzepte für die
vereinigte Zukunft existierten.
128

J.P. Reemtsma, Kleine Vorbemerkung, in: W. Pohrt, Der Weg zur inneren Einheit. Elemente des Massenbewußtseins BRD 1990, S. 13: "Die
BRD gleicht einem Kaleidoskop, das man kräftig geschüttelt hat, und zur Zeit der Abfassung dieser Vorbemerkung (Februar '91) fallen die bunten
Scherben noch."
129

Vgl. das Geheimprotokoll eines von M. Thatcher am 24.3.1990 einberufenen Deutschland-Seminars renommierter amerikanischer und britischer
Historiker, in: Spiegel, 29/1990, S. 109-112. "Die Teilnehmer meinten, es sei einfacher und dieser Diskussion angemessen, an die weniger
angenehmen Merkmale zu denken: an die mangelnde Sensibilität der Deutschen den Gefühlen anderer gegenüber (am deutlichsten in ihrem
Verhalten in der Grenzfrage gegenüber Polen), ihre Selbstbezogenheit, einen starken Hang zu Selbstmitleid und das Verlangen, geliebt zu werden."

24

Hypothese zur Analyse der Vorgänge im Jahr 1989. Für ihn stellt der Kalte Krieg die globale Fortsetzung des
Europäischen Bürgerkrieges dar. Ob es zur Spaltung Europas ohne Hitler gekommen wäre, erörtert er nicht.130
Selbst ein Gegner Noltes wie Rudolf Augstein schwenkte auf dessen Argumentation ein, indem er sich Kritik an der
Wiedervereinigung wegen der deutschen Geschichte verbat:
"Ob die Deutschen die Vergangenheit vergessen dürfen oder sollen oder müssen, kann nicht verordnet werden. [wer
wollte das?] Der Ansatz Ernst Noltes, um den sich der sogenannte 'Historikerstreit' rankt, war ja philosophisch
richtig [!], so überflüssig man dies Gerangel auch finden mag. Nur hat er ihn mit kaum glaublichen Beispielen und
absurden Ergebnissen zerstört (die letzteren lagen 1963 schon vor)."131
Im weiteren vergleicht Augstein in bester Noltescher Diktion das nationalsozialistische Deutschland mit Israel, Berlin
mit Jerusalem, die Täter mit den Opfern.132 Die guten Ratschläge aus Deutschland an Israel scheinen einem besonderen
Interesse zu gehorchen. Keinem anderen Land (abgesehen vielleicht von den USA) widmen deutsche Publizisten und
Bewegungen [!] so viel Zeit und Kraft.
Diese Widersprüchlichkeit sprachlicher Fixierung erinnert an ein verkehrtes Orwellsches Newspeak, das zugleich das
innere Begehren nach einem Abschied von der belastenden Vergangenheit und das äußere Bekenntnis zu Erinnerung
und Demut ausdrückt. Daß es sich dabei nicht um ein genuin rechtes Phänomen handelt, beweist die Haltung der
deutschen Friedensbewegung zum Golfkrieg.133
VI. Schluß
Eine verbreitete Ansicht besagt, die Deutschen neigten in ihrer Geschichte zu extremem Nationalismus und
selbstherrlicher Militanz. Viele unserer europäischen Nachbarn blickten deshalb besorgt nach dem 9. November 1989
auf unser Land: die Gefahr eines "Vierten Reiches" schien ihnen aufzuziehen. Nicht zuletzt dieses magische Datum
erinnerte sie an schlechte deutsche Traditionen.
Tatsächlich liegen die Probleme Deutschlands nicht im nationalen Pathos begründet. Vielmehr lastet die Deutsche
Frage (gerade nach ihrer Lösung) wie ein selbst auferlegter Fluch, dem keine Talkshow entkommen kann. Die Feiern
am 3. Oktober 1990 waren eher verordnet, denn gewollt, die Einheit wünschte sich wohl jeder (wenn auch niemand zu
sagen wußte, warum), ihren Preis aber mag keiner bezahlen.

(S. 109)
130

E. Nolte, Only political pluralism can bring the Cold War to a close, in: European, 29.6.90, S. 8: "After the revolution of 1989, it should be clear
that the main characteristic of the 20th century has been a 70- year world civil war, which was triggered by the seizing of power by the militantpacifist and militant anti- capitalist world party of the Bolsheviks in Russia in 1917; throughout Europe this has been represented in varied forms as
the 'European civil war' and as the Cold War, and it only came to an end when the Soviet Union abandoned Lenin's maxim that Marxism was allpowerful because it was right."
131

R. Augstein, Stunde Null, in: Spiegel, 2/1990, S. 18.

132

Augstein, Stunde Null, S. 18: "Wieso dürfen wir den Holocaust nicht als das Jahrhundertverbrechen ansehen und gleichwohl die
Knochenbrecher in Israel nicht eben schätzen? [...] Wer den Fall der Mauer beklagt, wer niemanden mag, der 'aggressiv' ist, wie Elie Wiesel von
sich sagt: Er mag uns dann doch erklären, warum in Jerusalem geschossen wird und in Berlin nicht. Das liegt nun nicht mehr an Adolf Hitler.
Wiesel, der Erinnerer, wird zu Wiesel, dem Verdränger."
133

Als Beleg mögen einige Zitate aus Leserbriefen an das linke Magazin "konkret", abgedruckt in einer Dokumentation zur Ausgabe 3/1990
dienen: "Noch niemand hat den Staat Israel in solche Gefahr gebracht wie seine vorgeblichen Freunde, wohlwissend, daß sie das billigend in Kauf
nahmen." (S. 3) Wissen Deutsche besser, was für Israel gut und richtig ist? "Der Zionismus ist eine expansionistische, menschenverachtende
Ideologie; dieses wird in der anti-deutschen Linken leider nur allzu selten betont!" (19) Was ist mit der arabischen Position, Israels Existenz zu
bestreiten? "Nur ist mir noch unklar, bei wieviel toten Arabern die deutsche Schuld gegenüber Israel gelöscht ist?" (21) "Aber ich kann mir nicht
verkneifen festzustellen, daß er [Broder] immer noch mit seinem Trauma lebt und genau das macht wie schon in seiner Kindheit, nämlich sich
Ausfälle zu leisten, wohl wissend, daß sich keiner traut, ein Judenkind zu schlagen. [...] Als Enkel der Tätergeneration hat auch so mancher seine
offenen Wunden jetzt." (24) Nur daß die Deutschen weit ab von den irakischen Raketen sitzen. "Ist es aber richtig, daß die Deutschen von den
Palästinensern verlangen, daß sie die Schulden von Deutschen bezahlen?" (36) Womit die Irrationalität der Kritik an den sich im Golfkrieg passiv
verhaltenden Israelis offen ausbricht. Was haben diese Juden bloß den Deutschen angetan?

25

Was also steckt hinter dieser zwanghaften Selbstbespiegelung, welches sind die wirklichen Gefahren, die von
Deutschland aus gehen?
Offenbar fehlt den Deutschen etwas, ein Mangel wird da oft benannt: "Ich will stolz sein, ein Deutscher zu sein" lautet
gerade unter jungen Menschen eine beliebte Klage. Sie wollen gute Patrioten sein, die zu ihrer Heimat stehen, ihre
Fahne schwenken und die Hymne singen. Alles dies wolle ihnen das Ausland verwehren - so beteuern sie immer
wieder.
In Wahrheit aber beherrscht kaum einer von ihnen den Text des Deutschlandliedes - und wenn, dann allenfalls die
falsche Strophe. Auch Fahnen sind in deutschen Kinderzimmern viel seltener anzutreffen als Madonna-Poster, obwohl
(wie die Feiern zur Deutschen Einheit gezeigt haben) ihre Produktion keineswegs eingestellt worden ist. Verboten ist
das Flaggen im übrigen ebenso wenig wie das Rasen auf Deutschlands Autobahnen. Weshalb also die Zurückhaltung,
wenn doch das Bedürfnis, sein Vaterland zu lieben, so stark ist?
Ich glaube, der Grund zu dieser Klage liegt im Wörtchen 'Stolz' verborgen: stolz kann ich nur auf etwas sein, das ich
selbst geleistet habe, was ich in Ehren halten kann. Was sollte das in Deutschland sein? Ein Volk der Dichter und
Denker sind wir lange nicht mehr, die letzten großen Nobelpreisträger haben wir entweder verfolgt, vertrieben oder
bestenfalls ignoriert. Komponisten wie Bach oder Beethoven werden in keiner Disko gespielt, auch die deutsche
Küche scheint der Jugend gleichgültig zu sein. Was bliebe da noch? Ordnungssinn, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit
und deutsche Perfektion? Tatsächlich haben auch diese Tugenden - wenn sie denn jemals solche waren - nur noch
wenig Bedeutung, man höre einmal das Lamento von Lehrern und Meistern über die Schwächen ihrer Schützlinge.
Tüchtigkeit und wirtschaftlicher Erfolg sind da schon bessere Aspiranten auf den deutschen Stolz, aber was ist
national an einem Bruttosozialprodukt, das von Millionen ausländischer Arbeitnehmer miterwirtschaftet wird.
Immerhin: das Ausland beneidet uns darum.
Nein, es gibt nichts, auf das wir wirklich stolz sein könnten, weil uns zur Nation eine wesentliche Voraussetzung fehlt:
die bürgerliche Revolution.134
Demokratie und Einheit wurden nie erkämpft, stets nur gewährt, und somit wurden sie auch immer wieder leichtfertig
verspielt. Die Umwälzungen in der DDR machen dabei keinen Unterschied: ohne Gorbatschow, ohne die Ungarn, die
Polen und die Tschechen, ohne das totale wirtschaftliche Versagen des Sozialismus herrschten im Osten Deutschlands
auch heute noch Honecker und Co. Erst ganz zum Schluß, als das System fast von allein zusammenbrach, faßten die
Menschen ihren Mut zusammen. Und wenige Monate später übergaben sie all ihre Hoffnungen in die Hände
Westdeutschlands. Von den wenigen Revolutionären aber haben fast alle inzwischen resigniert.
Wenn der Wunsch, stolz zu sein, so ausgeprägt, aber auch so unerfüllt ist wie in Deutschland, dann schlägt er um in
Selbsthaß ("Mauer im Kopf"), Mißgunst (Fremdenfeindlichkeit) und Selbstmitleid ("die verfolgende Unschuld"). Was
ich selbst nicht erreichen kann, soll auch mein Nachbar nicht genießen, also sind die anderen nicht stolz, sondern
kulturlos (USA), nicht patriotisch, sondern naiv (Balten und Slowenen), nicht national, sondern hinterhältig (Polen).135
Ich plädiere keinesfalls für einen 'gesunden' Patriotismus, denn er wäre nur eine leere Hülse für diese unterdrückten
134

Die Parole der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" kann zum sozial-psychologischen Deutungsmuster der Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts dienen. Sie repräsentieren jeweils das Verhältnis des Individuums zur Herrschaft (Staat) zur Gesellschaft (Masse) und
zur Gemeinschaft (Gefolgschaft). Politisch wurden die Interessen demokratisch relativiert durch den Liberalismus (Bürgertum), den Sozialismus
(Arbeiter) und den Nationalismus (Elite) vertreten. Totalitäre Verabsolutierungen sind Anarchismus, Bolschewismus und Faschismus. Eine weitere
Assoziation besteht zum Instanzen-Modell Freuds: Ich (Bewußtsein), Es (Trieb) und Über-Ich (Gewissen). Faschismus und Bolschewismus wäre
demnach eine autoritäre Ich-Schwäche gemein, die sich in sadistischen oder narzißstischen Zwangshandlungen äußert. W. Pohrt kommt in seiner
Studie, Der Weg zur inneren Einheit, zu folgendem Ergebnis: "Die Daten zeigen außerdem, daß neben der habituellen Empfänglichkeit für
autoritäre Propaganda die Disposition zur pathischen Projektion existiert, die eine aggressive autoritäre Massenbewegung benötigt." (S. 268)
135

W. Pohrt, Es kommt ganz anders, in: konkret, 2/1990, S. 17: "Das wiedervereinigte Deutschland wäre demnach eine Gesellschaft von
resentimentgeladenen Enttäuschten, hadernd mit ihrem Schicksal, mit Gott und der Welt. Die Nation, die sie haben wollten, hat ihnen nichts
gebracht, zumal sie einander partout nicht mögen. Sie brauchen nun einen gemeinsamen Feind, und es macht wenig aus, die ungeliebte Nation, die
ungeliebte Bevölkerung dieser Nation und das ungeliebte Selbst in einem Krieg aufs Spiel zu setzen." In Wahrheit sind die Deutschen - siehe
Golfkrieg - selbst dazu nicht mehr bereit.

26

Aggressionen. Eine endgültige Antwort, die zur Hoffnung berechtigt, habe ich nicht. Vorsicht ist angebracht, wenn die
Normalität in Deutschland beschworen wird, normal war bei uns noch nie etwas (man denke nur an den
Hauptstadtstreit). Die romantische Sehnsucht nach der idyllischen Normalität ist nur die gebändigte Version des
Hasses auf uns selbst. Was sie gebiert, wissen wir nicht - wollen wir es wissen?

27

Exkurs:
Vorüberlegungen zu einer Methodik des Spurenlesens
Unter einer Abduktion versteht man den logischen Schluß von der Regel und dem Resultat (der Wirkung) auf den
Fall (die Ursache),136 der bei Aristoteles auch Apagoge (Umbiegung) genannt wird. 137 Dieser Syllogismus hat den
folgenden Aufbau:
Obersatz: alle M sind P (Diese Urne enthält weiße Kugeln.)
Untersatz: alle S sind P (Diese Kugel ist weiß.)
Conclusio: alle S sind M (Diese Kugel ist aus dieser Urne.)
Der Schluß ist allein dann notwendigerweise richtig, wenn M=P gilt, d.h. wenn S nur in M liegen kann.138Er wird
umso wahrscheinlicher, desto mehr Elemente von S sich in M statt außerhalb von M befinden. Sind S und M
elementefremd, wird der Schluß immer falsch, Beispiel:
Alle Paarhufer sind Säugetiere. (richtig)
Alle Wale sind Säugetiere.
(richtig)
Alle Wale sind Paarhufer.
(falsch)
Ersetzte man das Wort 'Wale' durch 'Pferde', wäre der Schluß korrekt. Es handelt sich bei der Abduktion also nur um
einen hypothetischen Wahrscheinlichkeitsschluß.
Auch das Spurenlesen folgt der Logik der Abduktion, es versucht aus den Wirkungen einer Tat auf dessen Urheber zu
schließen. Während aber das Verhältnis von Ursache und Wirkung kausal determiniert ist, kann der Rückschluß nur
vermutet werden.
Abstrakt betrachtet grenzt der Fährtenleser die Menge der Verdächtigen durch verschiedene Spuren (Teilmengen) ein.
Der Schnitt aller Teilmengen soll den/die Täter umfassen. Was ist jedoch, wenn die Schnittmenge leer bleibt? Welche
Spur ist dann falsch gedeutet worden? Gibt es womöglich gar keinen Täter?
Meine Hypothese, die im weiteren erläutert werden soll, lautet:
Alles Beobachten ist Spurenlesen.
Die wichtigste Folgerung aus dieser These betrifft die Naturwissenschaft, auch sie beruht wesentlich auf
Beobachtungen (Experimenten). Sie unterliegt damit genauso dem Unsicherheitsrisiko wie anderes Fährtenlesen (z.B.
das Quellenstudium). Da die Naturgesetze aus Erfahrung gewonnen werden, jede Beobachtung aber fehlbar bleibt, ist
der naturwissenschaftliche Schluß nicht stringenter als der geisteswissenschaftliche.
An einem Beispiel soll das Spurenlesen deutlich werden:
Jemand findet ein Stück Papier, auf dem in der Mitte drei nebeneinanderstehende Zeichen zu erkennen sind. Die
Zeichen ähneln den Buchstaben A, U und O, wobei der Abstand zwischen dem ersten und zweiten Zeichen geringer ist
als der zwischen dem zweiten und dritten. Der Finder ergänzt den Buchstaben T zwischen U und O.
Welche Gedanken mögen ihm wohl durch den Kopf gegangen sein? Auch wir wollen uns deshalb als
136

G. Klaus/M. Buhr, Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Leipzig 1972, S. 33f.

137

Aristoteles, Lehre vom Schluß oder Erste Analytik (Organon III), übersetzt von E. Rolfes, Hamburg 1975, 2. Buch, 25. Kapitel, S. 142f: "Eine
Apagoge (Umbiegung), Abduktion ist es, wenn es sicher ist, daß der erste (obere) Begriff dem mittleren zukommt, das aber, daß der mittlere dem
letzten (unteren) zukommt, zwar unsicher, aber ebenso glaubwürdig oder glaubwürdiger ist als der Schlußsatz."
138

Zur Erläuterung der Buchstaben: S = Subjekt (Unterbegriff), M = Mittelbegriff, P = Prädikat (Oberbegriff).

28

(Meta)spurensucher betätigen:
1. hat er angenommen, daß es sich bei dem Zettel um eine unvollständige - weil ihm nicht erklärliche - Mitteilung
handelt;
2. vermutet er, daß die Zeichen ein Wort mit vier Buchstaben bilden;
3. glaubt er, daß es ein Wort der deutschen Sprache sei; und schließt, daß es nur AUTO sein kann.
Tatsächlich hat der Spurendeuter eine Vielzahl von Annahmen vorausgesetzt, die aus dem Objekt selbst nicht
abzuleiten sind:
a) Regelmäßigkeit: Zettel dienen der Nachricht; Zeichen auf Zetteln, die Buchstaben ähneln, sind Buchstaben; die
Abstände zwischen den Buchstaben von Worten bleiben gleich; Zettel in Deutschland tragen deutsche Worte;
b) Geschlossenheit: der Zettel enthält die ganze Botschaft; das A ist der erste, das O der letzte Buchstabe;
c) Einfachheit: die Buchstaben bilden nur ein Wort; es fehlt nur ein Buchstabe; das Wort AUTO liegt nahe.
Alle diese Vermutungen sind nicht notwendigerweise korrekt:
- es könnte sich z.B. um eine zufällige Sammlung von Buchstaben oder um Schreibübungen mit einem neuen Stift
handeln;
- das A ist vielleicht ein verdrehtes Winkelzeichen, das U steht für Vereinigung in der Mengenlehre, und das O ist in
Wirklichkeit ein Kreis oder eine Null, alle Zeichen stehen womöglich auf dem Kopf;
- der größere Abstand kann als Trennung zweier Worte gedeutet werden, dem Schreiber fehlt nur ein bißchen Übung;
- die Buchstaben könnten zu AUTOBAHN oder MAUSOLEUM gehören oder einfach nur A u. O (es fehlt der
Abkürzungspunkt) heißen.
Doch zusammen genommen hat die Lösung des Deuters die größere Plausibilität als jede einzelne der oben
angeführten Alternativen, die sich zum Teil auch noch widersprechen.139 Gleichzeitig haben wir an diesem Beispiel die
grundlegenden Prinzipien der Gestaltwahrnehmung erörtert.

139

Die Ironie unserer Bemühungen liegt allerdings in folgendem Widerspruch: Der Spurenleser hat vorausgesetzt, daß der Zettel eine sinnvolle
Botschaft enthält. Welchen Sinn das einzelne Wort AUTO für den Leser haben sollte, bleibt dann rätselhaft. Vielleicht erkennt der Spurenleser erst
jetzt, daß er dem Jux eines Zeitgenossen aufgesessen ist, der das Spurenparadigma an ihm exerzieren wollte.

29

Selbstorganisation als Paradigma der Geschichtswissenschaft
Einige Überlegungen zur Geschichtsphilosopie
Beginnen wir mit drei alltäglichen Erfahrungen:
1. Sie lesen ohne große Mühe einen Brief in einer fremden Handschrift, an dem selbst die besten Computerprogramme
versagen müßten.
2. Sie betrachten eine Kippfigur, wie zum Beispiel den Neckerwürfel oder die berühmte Vase mit den zwei Profilen.
Trotz identischer Reize auf der Netzhaut sehen Sie zwei verschiedene Bilder.
3. Jeder kennt den blinden Fleck im Auge, der bei konzentrierter Fixierung etwas aus dem Gesichtsfeld verschwinden
läßt, doch es fehlt das Loch im Bild.
Alle drei Beobachtungen erinnern uns daran, daß Wahrnehmen nicht passives Empfangen ist, sondern selbst aktiv
verändert. Es bedarf nur einer Auswahl von Anhaltspunkten (1), ist eindeutig trotz mehrdeutiger Reize, ohne dem
Willen zu unterliegen (2), und es ist lückenlos, selbst wenn es uns damit täuscht (3). Die Wahrnehmung ist also
unscharf (fuzzy), aber für eine schnelle Reaktion ausreichend genau, sie unterwirft sich dem Denken140 und vermeidet
so Irritationen. Mit einem Wort: Wahrnehmungen werden tatsächlich gemacht.
Natürlich habe ich diese drei Beispiele nicht zufällig gewählt, sie illustrieren nämlich wichtige Prinzipien der
Gestalttheorie, die uns in diesem Text noch beschäftigen werden. Ich vermute, daß ihr Vorkommen in den
unterschiedlichen Lebensbereichen auf besondere Eigenarten des menschlichen Gehirns zurückzuführen sind.
Demnach sind Wahrnehmungen möglichst einfach, regelmäßig und in sich geschlossen, das heißt sie tendieren zu dem
wahrscheinlichsten Zustand, der mithin auch am wenigsten neue Information enthält.141
Komplexe Sinnesdaten müssen in kürzester Zeit so sinnvoll wie möglich reduziert werden, damit wir angemessen
reagieren können. In der Evolution mußten sich daher Mechanismen entwickeln, die dem Menschen das Überleben
erleichterten. Erfahrungen im Umgang mit der Natur dürften nur diejenigen Prinzipien bestehen gelassen haben, die
das Leben begünstigten. Insofern sind auch sie dem Darwinschen Selektionsdruck unterworfen. Doch meine
Vermutungen gehen weiter: Ich nehme an, daß
a) sich Wahrnehmung und Wahrgenommenes grundsätzlich ähneln,142
b) ihre Strukturen einfach, aber (dadurch) entwicklungsfähig bleiben,143
c) sich auch alle Evolutionen (von Kosmos, Leben, Geist, Kultur und Gesellschaften) ähneln,144
140

Irvin Rock, Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen, Heidelberg 1985, S. 198: "Vielleicht ist es genau umgekehrt.
Wahrnehmung ging dem Denken in der Evolution voraus. Sie entwickelte sich aus der Notwendigkeit, aus einem mehrdeutigen Reiz
wirklichkeitsnahe Rückschlüsse auf die Umgebung abzuleiten. [...] Vielleicht hat sich daraus durch vielfältige Veränderungen und Modifikationen
die Fähigkeit zum Schließen und Denken entwickelt. So gesehen wäre Denken wahrnehmungsähnlich."
141

Dazu ein Beispiel aus der Linguistik: Judith Macheiner, Das grammatische Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu
bilden, Frankfurt/M. 1991, S. 104: "Daß sie aber als freie Adverbiale im Deutschen dem Prinzip der zunehmenden informationellen Hierarchie
folgen, ist eben kein Zufall. Dies heißt doch nicht weniger, als daß sich auch die freien Adverbiale in Richtung auf das Verb hin anordnen. So wie
das Verb in seiner Grundstellung am Ende des deutschen Satzes den strukturellen Magnetpol für die festen Verbpartner bildet, bildet es den
Magnetpol für die freien Adverbiale." Diese Hierarchie bedeutet im Deutschen: Nominativ vor Dativ- vor Akkusativ- vor Präpositionalobjekt vor
Prädikat und bei den Adverbialen: Zeit vor Grund vor Ort vor Art und Weise. "[Könnte] Die allgemeine Ausrichtung auf das Verb, die sich im
Deutschen, zumindest für gleichberechtigte Konstituenten, rechtszentrierend [S-O-V] auswirkt, im Englischen linkszentrierend [S-V-O] wirken?"
(Ebenda, S. 92) Beispiel Deutsch: Zeit vor Ort, Englisch: Ort vor Zeit.
142

Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt/M. 1985, S. 15: "In unserer Botschaft lag etwas, das wir nicht in Worte zu fassen wußten, und
beim Empfang muß man sich darauf verlassen, daß die angesprochene Person herausfinden wird, was wir ihr nicht vermitteln konnten." "Es scheint
daher sinnvoll, anzunehmen, daß auch in allen anderen Fällen impliziten Wissens eine Entsprechung besteht zwischen der Struktur des Verstehens
und der Struktur des Verstandenen, der komplexen Entität." (Ebenda, S. 37)
143

Peter W. Atkins, Schöpfung ohne Schöpfer - Was war vor dem Urknall? Reinbek 1984, S. 17: " Nehmen wir an, Sie wären ein maßlos fauler
Schöpfer - was wäre das Minimum an Angaben, auf das Sie sich bei der Planung des Universums beschränken könnten?"
144

Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 13: "Auf die in Individual- und
Gattungsgeschichte homologen Bewußtseinsstrukturen des Rechts und der Moral stütze ich mich in verschiedenen Beiträgen des vorliegenden

30

d) ebenso die Strukturen der Evolution und die Evolution der Strukturen, und
e) deren grundlegendes Prinzip als Selbstorganisation der Natur durch Symmetriebrüche begriffen werden kann.145
Diese überindividuellen Strukturen sollen benannt und zugeordnet werden: sie prägen unser Wahrnehmen und
Denken, unsere Weltbilder und Handlungen, sie gewährleisten unser Zusammen- und Überleben, sie formen unsere
Ideen und unsere Geschichte.
Vergleicht man die Entwicklung des Individuums mit der ganzer Gesellschaften, so fallen einem folgende Homologien
auf, die ich der Einfachheit halber skizziere:
individuell-synchron:

sozial-diachron:

WAHRNEHMUNG — WIRKLICHKEIT
!
!
DENKEN
WELTBILDER

QUELLEN
--- GESCHICHTE
!
!
FORSCHUNG — THEORIEN

Daß zwischen Wahrnehmung und Denken eine Ähnlichkeitsbeziehung besteht, kann mit den Gestaltpsychologen
vermutet werden, auch Wahrnehmung und Wirklichkeit sind evolutionär aneinander gereift. Da das Denken unsere
Vorstellungen von der Wirklichkeit und die Welt selbst beeinflußt, darf angenommen werden, daß sich mit
fortschreitender Zeit die Weltbilder immer mehr der Wirklichkeit annähern. Der berühmte alte Adam, der keine
zutreffende Vorstellung vom Löwen entwickelt hatte, dürfte ausgestorben sein.146
Analogien zur Geschichtswirklichkeit zu ziehen fällt einem schwerer, da die Zeit nicht nur als legitimatorisches Mittel
für die evolutionäre Erkenntnis dient, sondern selbst Zweck der Erforschung ist. Wenn aber wenig Zweifel an der
Richtigkeit unserer Wahrnehmungen bestehen, da sie sich im Laufe der Zeit bewährt haben, müßte schon ausdrücklich
erklärt werden, warum die Zeiterfahrung gerade für die Geschichtsbilder so unzuverlässig sein soll.
Die Geschichtswissenschaft hat dennoch große Probleme, die Standards der Naturwissenschaften zu erfüllen: So
herrscht hinsichtlich der Begriffe keine Einigkeit über die Definitionen (z.B. Faschismus, Kapitalismus, Feudalismus);
Geschichte entzieht sich oft quantitativer Verfahren und qualitativer Vergleiche; es besteht eher die Gefahr, Quellen
nach ideologischen Gesichtspunkten auszuwählen oder zu unterdrücken; es bleiben häufiger Widersprüche über
Fakten und Daten; per definitionem ist Geschichte einmalig und daher im engen Sinne nicht nachprüfbar.
Es fehlt ihr also an Klarheit und Objektivität, an Widerspruchsfreiheit und Intersubjektivität. Daß diese Mängel
methodisch erkannt und behoben werden können, habe ich an anderer Stelle gezeigt. Doch bleiben Zweifel an der
Möglichkeit, Geschichte wissenschaftlich zu erforschen, Theorien zu bilden und Erkenntnisse zu gewinnen. Wie bei
einem Puzzle möchte man sicher sein, daß man die richtigen Teile verwendet (Definitionen), daß der Rahmen gut
gewählt ist (Angemessenheit), daß keine Teile fehlen oder übrig bleiben (Auswahl), daß sie alle passen (Logik) und
auch das gewählte Motiv wiedergeben (Nachprüfbakeit).
Betrachtet man die Versuche, die Geschichte zu deuten, dann finden sich überraschenderweise nicht beliebig viele
Modelle oder Theorien. Insgesamt lassen sich die meisten Geschichtsphilosophien in vier große Gruppen einteilen:147

Bandes. [...] Aber die Homologien beschränken sich nicht auf diesen Kernbereich der Interaktion. Damit der hier programmatisch vorgestellte
theoretische Ansatz erfolgreich sein kann, bedarf es der Untersuchung von Rationalitätsstrukturen auch in Bereichen, die bisher begrifflich und
empirisch kaum erforscht sind: im Bereich der Ichentwicklung und der Evolution der Weltbilder einerseits, im Bereich der Ich- und
Gruppenidentitäten andererseits."
145

Vergleiche Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. München 1979.

146

Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1981, S. 103: "Ansätze zur Bildung falscher Hypothesen über die Welt werden in der
Evolution schnell eliminiert."
147

Vergleiche: H. Seiffert/G. Radnitzky (Hg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, Stichwort Geschichtstheorie, S. 107f. K.
Wuchterl, Lehrbuch der Philosophie, Stuttgart 1984, S. 235.

31

a) zyklische, die die ewige Wiederkehr des immer Gleichen betonen (wie z.B. in Altindien, Babylon, Griechenland);
b) lineare, die auf ein Ziel (Gut oder Böse) gerichtet sind (wie im Altiran, Judentum, Christentum, bei Hegel und
Marx);
c) wellenförmige, die ein ewiges Auf und Ab beschreiben (wie Spengler oder Toynbee); und
d) chaotische, die keine Verbindungen oder Vergleiche zulassen (wie z.B. im Historismus).
Als Zeichen für diese vier Modelle sollen der Kreis, der Pfeil, die Welle und das unstrukturierte Chaos dienen. Alle
haben sie überdeutliche Bezüge auf natürliche Vorgänge, die Wiederkehr der Jahreszeiten etwa oder die Vorstellung
der Zeit als eines Strahls. Der Kreis steht für mythische Ideen, 148 während die Welle naturalistische Züge trägt, der
Pfeil verbindet sich mit Fortschrittsvorstellungen, wohingegen das Chaos dem Zufall unterliegt.
Geometrisch unterscheiden sich die vier Formen bezüglich ihrer Grenzen und Richtungen:
a) der Kreis ist begrenzt und ohne ausgezeichnete Richtung,
b) der Pfeil kennt keine Grenzen, ist aber gerichtet,
c) die Welle hat eine Richtung innerhalb fester Grenzen,
d) das Chaos bleibt ohne Grenzen und Ziele.
Auch hinsichtlich der Symmetrien und Fixpunkte lassen sie sich einteilen:
a) der Kreis hat ein Symmetriezentrum und unendlich viele Symmetrieachsen, die durch diesen Punkt gehen;
b) der Pfeil hat lauter Symmetriezentren und nur eine -achse;
c) die Welle hat weder Achsen noch Zentren;
d) das Chaos hat unendlich viele Achsen und Zentren.
Diese Modelle scheinen innerhalb eines bestimmten Systems abgeschlossen zu sein. Weitere Philosophien sind sowohl
logisch als auch praktisch nicht zu erwarten. Wenn meine Vermutung stimmt, sollte dies System wirklichkeitshaltig
sein, d.h. die möglichen Philosophien geben uns Auskunft über die tatsächliche Geschichte. Dabei spielt es keine
Rolle, welches Modell korrekt ist, sie sind es alle zusammen und zugleich auch nicht, da sie sich widersprechen. Die
Struktur hinter den Modellen klärt aber über die wirkliche Geschichte auf.
Wie könnte nun diese verborgene Struktur aussehen? Ein Ansatz, der meines Erachtens den richtigen Weg weist,
stammt von Hayden White.149 Er hat Geschichtsforscher und -philosophen des 19. Jahrhunderts untersucht und dabei
ein Strukturmodell geliefert, das auf rhetorischen Figuren basiert. Zusammengefaßt sieht sein Schema so aus:
Tropen

Erzählung

Argumentation

Ideologie

Metapher
Metonymie
Synekdoche
Ironie

Romanze
Tragödie
Komödie
Satire

formativ
mechanisch
organisch
kontextualistisch

Anarchismus
Radikalismus
Konservativismus
Liberalismus

White bezieht sich in seinem Buch ausdrücklich auf Claude Levi-Strauss, 150 der Metapher und Metonymie in den
Mittelpunkt seiner strukturalistischen Anthropologie stellt.151 Beide sind Übertragungstropen, jedoch in konträrer
148

Vilem Flusser, Die Schrift, Frankfurt/M. 1992, S. 10: "Beim Schreiben sollen Gedanken zu Zeilen ausgerichtet werden. Denn ungeschrieben und
sich selbst überlassen laufen sie in Kreisen. Dieses Kreisen der Gedanken, wobei jeder Gedanke zum vorausgegangenen zurückkehren kann, nennt
man in spezifischen Kontexten das 'mythische Denken'. Schriftzeichen sind Anführungszeichen aus dem mythischen in ein linear ausgerichtetes
Denken. Man nennt dieses richtige Denken aus noch zu besprechenden Gründen das 'logische Denken'." Tatsächlich ist die Zeit des Mythos die
Vorgeschichte, die schriftlose Zeit, die stillzustehen scheint.
149

Hayden White, Metahistory, Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991.

150

Metahistory, S. 567 und 573.

151

Claude Levi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1968, S. 238-242.

32

Weise: die Metapher wählt ein altes Wort für einen neuen Gegenstand, während die Metonymie ein neues Wort für
einen alten Gegenstand setzt. Die Metapher ersetzt aufgrund von bildhafter Ähnlichkeiten, die Metonymie vertauscht
aus gedanklicher Nähe. Synekdoche und Ironie können als Unterformen betrachtet werden, wobei die Synekdoche als
pars pro toto der Metapher nähersteht und die Verstellung der Ironie eher einen gedanklichen Zusammenhang wie die

33

Metonymie voraussetzt. Außerdem ließen sich die vier Tropen mit den Prinzipien der Gestaltwahrnehmung152
verbinden:
Metapher
Metonymie
Synekdoche
Ironie
Ähnlichkeit
Nähe
Geschlossenheit Regelmäßigkeit
Impliziert dieses Quartett nicht gerade die folgende Ergänzung:
Chaos

Pfeil

Kreis

Welle

Zugegeben, die Analogien scheinen weit hergeholt, aber ist das Punktechaos nicht der sprichwörtliche Wald, den man
vor lauter ähnlichen Bäumen nicht sehen kann? Verweist der Pfeil nicht auf das Naheliegende?153 Was wäre
geschlossener als ein Kreis, was regelmäßiger als die Gezeitenwelle? Tatsächlich lassen aber nur die beiden ersten
Tropen den direkten Schluß über die Gestaltgesetze auf das Modell zu.154
Da Metapher und Metonymie die Hauptachsen bei Levi-Strauss bilden, wollen wir das Quartett auf diese Tropen
reduzieren. Kreis und Welle wären somit Abarten von Chaos und Pfeil, die Dimensionen Grenzen und Richtung
spannten das Strukturschema der Geschichtsmodelle auf.
Die beiden Tropen erinnern an manichäische Gegensatzpaare, die sich bei der Lektüre verschiedener Linguisten und
Strukturalisten (Sassure, Jakobson, Barthes) aufdrängen:155
Metapher - Metonymie, Paradigma - Syntagma, Inhalt - Ausdruck, Sprechen - Sprache, nominal - verbal, poetisch prosaisch, diachron - synchron, Harmonie - Melodie, Funktion - System, Fiktion - Realität, Mythos - Wissenschaft.
Es sind die gleichen Paare, die wir aus der Gehirnforschung kennen:156
Analog - digital, synthetisch - analytisch, komplex - linear, bildhaft - verbal, intuitiv - rational, statisch - dynamisch,
primitiv - modern, weiblich - männlich, mythisch - geschichtlich, rechte - linke Hirnhälfte, Raum - Zeit.
Lassen sich nicht alle Strukturen auf unser Gehirn und seine Organisation zurückführen? Schließlich ist es das Organ,
mit dem wir die Welt erfassen und begreifen, mit dem wir unsere Theorien ersinnen und unsere Argumente prüfen. Da
es zugleich an unsere Welt angepaßt sein muß, dürfen wir begrenzt auf seine Fähigkeiten vertrauen.

152

John R. Anderson, Kognitive Psychologie, Heidelberg 1988, S. 63ff.

153

Michael Polanyi, Implizites Wissen, S. 15: "In der Tat beruht letztlich jede Definition eines Wortes, mit dem ein äußeres Ding benannt werden
soll, zwangsläufig darauf, ein solches Ding vorzuzeigen. Ein solches Benennen durch Zeigen heißt 'deiktische Definition', und dieser philosophische
Terminus verdeckt eine Lücke, die von der Intelligenzleistung derjenigen Person überbrückt werden muß, der wir sagen wollen, was das Wort
bedeutet." Was weist am Pfeil auf das Hinweisen hin?
154

Edmund Leach, Levi-Strauss zur Einführung, Hamburg 1991, S. 58: "Nach Ansicht von Roman Jakobson beruht die Metapher (das System oder
Paradigma) auf der Erkenntnis der Ähnlichkeit und die Metonymie (das Syntagma) auf der Erkenntnis von Nähe und Zusammengehörigkeit." [...]
"Dies alles schließt sich an eine sehr viel ältere anthropologische Untersuchungsmethode an. Frazer begann seine klassische Untersuchung der
primitiven Vorstellungen mit der These, daß diese auf zwei verschiedenen (irrtümlichen) Assoziationsweisen beruhten: der homöopathischen
Magie, die auf den Gesetzen der Ähnlichkeit aufbaut, und der Berührungsmagie, die auf den Gesetzen des Kontakts beruht." (S. 59)
155

E. Leach, S. 54-60.

156

Anderson, Kognitive Psychologie, S. 37: " Wie schon erwähnt, liegen die beiden Sprachzentren in der linken Hemisphäre; und generell scheinen
symbolische und analytische Verarbeitungsprozesse mit der linken Hemisphäre verknüpft zu sein, während die rechte Hemisphäre auditive und
visuelle Wahrnehmung verarbeitet, insbesondere die Wahrnehmung von Formen und räumlichen Beziehungen." Sammlung der Gegensatzpaare
nach Vera F. Birkenbihl, Stroh im Kopf? Speyer 1983, S. 31ff.

34






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